
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdfsagte die Frau. »Ja, mach’s gut, Marie. Grüß alle.»
»Ja.« Sie sahen sich an und schwiegen. Ein paar Leute mit Musikinstrumenten stellten sich in der Mitte des Bahnsteigs auf. »Nobel«, sagte der Gefreite, »Das junge Kanonenfutter geht mit Musik raus. Ich dachte, das hätten sie längst abgeschafft.»
»Sie könnten uns etwas von dem Kaffee geben«, erwiderte der Unteroffizier. »Wir sind schließlich alte Krieger und gehen auch raus!»
»Warte bis heute abend. Dann kriegst du ihn als Suppe,« Man hörte Marschschritte und Kommandos. Die Rekruten kamen. Fast alle waren sehr jung. Nur ein paar kräftige ältere waren dabei; die kamen wahrscheinlich von der SA oder der SS, »Von denen brauchen sich noch nicht viele zu rasieren«, sagte der Gefreite. »Seht euch das Gemüse an! Kinder!« Die Rekruten formierten sich. Unteroffiziere schnauzten. Dann wurde es still. Jemand redete.
»Mach das Fenster zu«, sagte der Gefreite zu dem Mann, dessen Frau draußen stand.
Der Mann antwortete nicht. Die Stimme des Redners klapperte weiter, als käme sie aus blechernen Stimmbändern. Graeber lehnte sich zurück und schloß die Augen. Heinrich blieb weiter am Fenster. Er hatte nicht gehört, was der Gefreite gesagt hatte. Verlegen, dumm und traurig starrte er auf Marie. Marie starrte ebenso zurück. Es ist gut, daß Elisabeth nicht hier ist, dachte Graeber.
Die Stimme schwieg endlich. Die vier Musiker spielten »Deutschland, Deutschland über alles« und das »Horst-Wessel-
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Lied«. Sie spielten die beiden Lieder rasch und von jedem nur eine Strophe. Niemand rührte sich im Abteil. Der Gefreite bohrte in der Nase und besah das Ergebnis ohne Interesse. Die Rekruten stiegen in ihre Wagen. Der Kaffeekessel folgte ihnen. Nach einiger Zeit kam er leer zurück. »Diese Huren«, sagte der Unteroffizier. »Altes Militär lassen sie verdursten.« Der Artillerist in der Ecke hörte eine Sekunde auf zu essen. »Was?« fragte er.
»Huren, habe ich gesagt. Was frißt du da? Kalbfleisch?« Der Artillerist biß in ein belegtes Brot. »Schwein«, sagte er »Schwein —« Der Unteroffizier sah die Leute im Wagen der Reihe nach an. Er suchte Gefährten. Der Artillerist kümmerte sich nicht darum. Heinrich stand noch immer am Fenster. »Grüß Tante Berta auch«, sagte er zu Marie. »Ja.« Sie schwiegen wieder. »Warum fahren wir nicht ab?« fragte jemand. »Es ist doch schon nach sechs.»
»Vielleicht warten wir noch auf einen General.»
»Generäle fliegen.« Sie mußten noch eine halbe Stunde warten. »Nun geh schon, Marie«, sagte Heinrich ab und zu. »Ich kann warten.»
»Der Kleine muß sein Essen haben.»
»Er kann es noch den ganzen Abend kriegen.« Sie schwiegen wieder eine Zeitlang. »Grüß Josef auch«, sagte Heinrich schließlich.
»Ja, gut. Ich will’s ihm ausrichten.« Der Artillerist ließ einen mächtigen Wind fahren, seufzte tief auf und schlief gleich darauf ein. Es war, als hätte der Zug nur darauf gewartet. Er fuhr langsam an. »Also dann, grüße alle, Marie.»
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»Du auch, Heinrich.« Der Zug fuhr schneller. Marie lief neben dem Wagen her. »Paß auf den Kleinen auf, Marie.»
»Ja, ja, Heinrich. Und du auf dich.»
»Klar, klar.« Graeber sah das verhärmte Gesicht der laufenden Frau unter dem Fenster. Sie lief, als ginge es um ihr Leben, um noch zehn Sekunden Heinrich anstarren zu können. Und dann, plötzlich, sah er Elisabeth. Sie stand hinter dem Stationsschuppen. Man hatte sie vom Zug nicht sehen können. Er zweifelte nur eine Sekunde, dann sah er ihr Gesicht genau. Es war so völlig fassungslos, daß es leblos zu sein schien. Er sprang auf und griff Heinrich am Rockkragen. »Laß mich ans Fenster!« Alles war plötzlich vergessen. Er begriff nicht mehr, warum er allein zum Bahnhof gegangen war. Er begriff nichts mehr. Er mußte sie sehen. Er mußte rufen. Er hatte das Wichtigste nicht gesagt.
Er zerrte an Heinrichs Genick. Heinrich hing weit hinaus. Er sperrte seine Ellbogen von außen gegen den Fensterrahmen. »Grüß Liese auch«, schrie er durch das Rattern. »Laß mich ran! Weg vom Fenster! Meine Frau steht draußen!« Graeber warf seine Arme über Heinrichs Schultern und riß. Heinrich trat nach hinten aus. Er traf Graebers Schienbein. »Und paß auf alles gut auf!« schrie er.
Man hörte die Frau nicht mehr. Graeber trat Heinrich in die Knie und riß seine Schultern zurück. Heinrich ließ nicht los. Er winkte mit einer Hand; mit dem Ellbogen und der anderen behauptete er sich am Fenster. Der Zug machte eine Kurve. Graeber sah über Heinrichs Kopf Elisabeth. Sie war schon weit entfernt und sehr klein und stand allein vor dem Schuppen.
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Graeber winkte über den strohigen Borstenkopf Heinrichs hinweg. Sie konnte die Hand vielleicht noch sehen; aber sie konnte nicht sehen, wer winkte. Eine Gruppe Häuser kam, und der Bahnhof war nicht mehr da.
Heinrich löste sich langsam aus dem Fenster. »Du gottverdammter...«, begann Graeber wütend und hielt inne. Heinrich drehte sich um. Dicke Tränen liefen ihm herunter. Graeber ließ die Hände sinken. »Ach, Scheiße!»
»Mensch, so was!« sagte der Gefreite.
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25Er fand das Regiment nach zwei Tagen und meldete sich auf der Kompanie-Schreibstube. Der Feldwebel war nicht da. Nur der Schreiber saß herum. Das
Dorf lag hundertzwanzig Kilometer weiter westlich als die letzte Stellung, die Graeber kannte. »Wie ist es hier?« fragte er.
»Beschissen. Wie war der Urlaub?» »Halb und halb. War viel los?»
»Allerhand. Du siehst ja, wo wir jetzt sind.» »Wo ist die Kompanie?»
»Ein Zug hebt Schützengräben aus. Ein anderer gräbt Tote ein. Sie kommen mittags zurück.»
»Hat sich viel verändert?»
»Du wirst es sehen. Ich weiß nicht, wer noch da war, als du abfuhrst. Wir haben viel Ersatz gekriegt. Kinder. Fallen wie Winterfliegen. Haben keine Ahnung vom Krieg. Wir haben einen neuen Spieß. Der alte ist tot. Der dicke Meinert.»
»War er denn mit draußen?»
»Nein, Es hat ihn auf der Latrine erwischt. Er ist mit dem ganzen Kram in die Luft geflogen.« Der Schreiber gähnte. »Du wirst ja sehen, was los ist. Warum hast du dir in der Heimat nicht einen netten kleinen Bombensplitter in den Hintern verpassen lassen?»
»Ja«, sagte Graeber. »Warum nicht? An die besten Sachen denkt man immer erst, wenn es zu spät ist.»
»Ich wäre ruhig noch ein paar Tage später zurückgekommen. Keiner hätte dich bei dem Durcheinander hier vermißt.»
»Auch das fällt einem immer erst ein, wenn man zurück ist.«
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Graeber ging durch das Dorf. Es glich dem, in dem er zuletzt gewesen war. Alle diese Dörfer glichen sich. Sie waren alle gleich verwüstet. Der Unterschied war nur, daß jetzt fast kein Schnee mehr da war. Alles war naß und dreckig; die Stiefel sanken tief ein, und die Erde hielt sie fest, als wollte sie sie hinabziehen. In der Hauptstraße waren Bretter aneinandergelegt, über die man gehen konnte. Sie quatschten im Wasser, und wenn man auf ein Ende trat, hob sich das andere triefend hoch. Die Sonne schien, und es war ziemlich warm. Es schien Graeber viel wärmer als in Deutschland zu sein. Er horchte auf die Front. Starkes Artilleriefeuer rollte und schwoll und ebbte ab. Er suchte den Keller, den der Schreiber ihm bezeichnet hatte, und packte seine Sachen an eine leere Stelle. Er ärgerte sich maßlos, daß er seinen Urlaub nicht einen oder zwei Tage länger überschritten hatte. Niemand schien ihn tatsächlich hier zu brauchen. Er ging wieder hinaus.VordemDorfwarenSchützengräbengezogen,siestanden jetzt voll Wasser, und die Wände waren zusammengesackt. An einigen Stellen waren schmale Betonbunker gebaut. Sie standen wie Grabsteine in der feuchten Landschaft. Graeber ging zurück. Auf der Hauptstraße sah er den Kompanieführer Rahe. Er balancierte auf den Brettern wie ein Storch mit einer Hornbrille. Graeber meldete sich bei ihm. »Sie haben Glück gehabt«, sagte Rahe. »Nachdem Sie fort waren, ist der Urlaub gleich gesperrt worden.« Er blickte Graeber aus seinen hellen Augen an. »Hat es sich gelohnt?»
»Ja«, erwiderte Graeber.
»Das ist gut. Wir sitzen hier ziemlich im Dreck. Dieses ist nur eine vorläufige Stellung. Wir fallen wahrscheinlich auf die
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Reservestellung zurück, die neu aufgebaut worden ist. Haben Sie sie gesehen? Sie müssen doch dort durchgekommen sein.»
»Nein, ich habe sie nicht gesehen.» »Nein?»
»Nein, Herr Leutnant«, sagte Graeber.
»Sie ist ungefähr vierzig Kilometer von hier.»
»Es muß Nacht gewesen sein, als wir durchkamen. Ich habe viel geschlafen.»
»Das wird es sein.« Rahe sah Graeber wieder forschend an, als wollte er mehr fragen. Dann sagte er: »Ihr Zugführer ist gefallen. Leutnant Müller. Sie haben jetzt Leutnant Maß.»
»Jawohl.« Rahe stocherte mit seinem Spazierstock in dem nassen Lehm. »Solange der Dreck so anhält wie jetzt, ist es für die Russen schwer, mit Artillerie und Tanks vorwärtszukommen. Das gibt uns Zeit, uns zu formieren. Alles hat sein Gutes und Schlechtes, wie? Gut, daß Sie wieder zurück sind, Graeber. Wir brauchen alte Leute, um den jungen Ersatz zu trainieren.« Er stocherte weiter im Lehm. »Wie war es drüben?»
»Ungefähr so wie hier. Viele Luftangriffe.» »Wirklich? So schlimm?»
»Ich weiß nicht, wie schlimm es war im Verhältnis zu anderen Städten. Aber alle paar Tage kam mindestens ein Angriff.« Rahe blickte Graeber an, als wartete er darauf, daß er mehr sagen sollte. Aber Graeber schwieg.
Die andern kamen mittags zurück. »Der Urlauber!« sagte Immermann. »Mensch, wozu bist du bloß in diese Scheiße zurückgekommen? Warum bist du nicht desertiert?»
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»Wohin?« fragte Graeber. Immermann kratzte sich den Kopf. »In die Schweiz«, sagte er dann.
»Daran habe ich nicht gedacht, du Schlauberger. Dabei gehen tagtäglich Spezial-Luxuszüge für Deserteure nach der Schweiz. Sie haben rote Kreuze auf die Dächer gemalt und werden nicht bombardiert. Und die ganze Schweizergrenze entlang stehen Ehrenpforten mit der Aufschrift: ,Willkommen!‘ Weißt du sonst noch was, du Kaffer? Und seit wann traust du dich, so zu reden?»
»Ich habe mich immer schon getraut. Du hast das nur vergessen, in der wispernden Heimat. Außerdem gehen wir zurück. Wir sind fast auf der Flucht. Alle hundert Kilometer weiter rückwärts wird der Ton etwas freier.« Immermann begann seine Uniform vom Schmutz zu säubern.
»Müller ist tot«, sagte er. »Meinecke und Schröder sind im Lazarett. Mücke hat einen Bauchschuß bekommen. Er soll in War schau abgekratzt sein. Wer war sonst noch da von den Alten?
Richtig, Berning — rechtes Bein verloren. Verblutet.» »Was macht Steinbrenner?»
»Steinbrenner ist gesund und munter. Warum?»
»Ach, nur so...« Er traf ihn nach dem Abendessen. Er sah aus wie ein sonnverbrannter gotischer Engel.
»WieistdieStimmunginderHeimat?«fragteer.Graeberstellte sein Kochgeschirr nieder. »Als wir an die Grenze kamen«, sagte er, »wurden wir von einem SS-Hauptmann zusammengerufen und belehrt, daß unter strengster Strafe keiner von uns ein Wort über die Situation in der Heimat sagen dürfe.« Steinbrenner
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lachte. »Mir kannst du es ruhig sagen.»
»Dann wäre ich ein schöner Esel. Strengste Strafe heißt: er« schossen werden als Saboteur des Reichswehrwillens.« Steinbrenner hörte auf zu lachen. »Du sagst das, als ob wer weiß was zu erzählen wäre. Als gäbe es drüben Katastrophen!»
»Ich sage gar nichts. Ich wiederhole nur, was uns der SSHauptmann erklärt hat.« Steinbrenner betrachtete Graeber abwägend. »Du hast geheiratet, was?»
»Woher weißt du das?» »Ich weiß alles.»
»Du weißt es von der Schreibstube. Mach dich nicht wichtig. Du bist oft auf der Schreibstube, was?»
»Ich bin da, so oft es nötig ist. Wenn ich auf Urlaub gehe, heirate ich auch.»
»So? Weißt du schon wen?»
»Die Tochter des Obersturmbannführers in meinem Heimatort.»
»Natürlich.«— Steinbrenner überhörte die Ironie. »Die Blutmischung ist erstklassig«, erklärte er, ganz bei der Sache. »Nordisch-Friesisch von meiner Seite — RheinischNiedersächsisch von ihrer.« Graeber starrte in den roten russischen Abend. Ein paar Krähen flatterten wie dunkle Lappen darin herum. Steinbrenner ging pfeifend davon. Graeber legte sich zurück. Die Front grollte. Die Krähen flogen. Ihm war plötzlich, als wäre er gar nicht fort gewesen.
GraeberhatteWachevonMitternachtbiszweiundgingumdas Dorf herum. Die Ruinen standen schwarz gegen das Feuerwerk
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der Front. Der Himmel zitterte und wurde heller und dunkler unter dem Mündungsfeuer der Artillerie. Die Stiefel stöhnten wie verdammte Seelen in dem zähen Dreck. Der Schmerz kam schnell und überraschend, und ohne daß er ihn vorausgeahnt hatte. Er hatte an nichts mehr gedacht und war dumpf gewesen während der Tage der Reise. Jetzt, plötzlich und ohne Übergang, schnitt es durch ihn, als würde er in Streifen gerissen.
Er blieb stehen und wartete. Er bewegte sich nicht. Er wartete darauf, daß die Messer begännen, sich zu drehen, daß sie zu Qual würden, daß sie Namen bekämen und sich mit den Namen lokalisierten und damit zugänglich wurden für Vernunft und Trost oder zumindest für fatalistische Hinnahme. Es kam nicht. Nichts war da als der klare Schmerz des Verlustes. Es war ein Verlust für immer. Nirgendwo war eine Brücke. Er hatte es gehabt, und es war verloren. Er horchte in sich hinein. Irgendwo mußte noch eine Stimme sein, ein Echo von Hoffnung mußte noch irgendwo herumgeistern. Er fand nichts. Es war nur Leere da und namenloser Schmerz.
Es ist zu früh, dachte er. Es wird wiederkommen, später, wenn der Schmerz vorbei ist. Er versuchte es zu beschwören, er wollte nicht, daß es sich losriß, er wollte es behalten, auch wenn der Schmerz unerträglich würde. Es wird zurückkommen, wenn ich nur aushalte, dachte er. Er nannte Namen und versuchte, sich zu erinnern. In einem Nebel tauchte Elisabeths verstörtes Gesicht auf. Es war so, wie er es zuletzt gesehen hatte. Alle anderen Gesichter, die sie gehabt hatte, verschwammen; nur dieses wurde deutlich. Er versuchte, sich den Garten und das Haus Frau Wittes vorzustellen. Er konnte es, aber es war, als
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