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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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ausgedrückt. Im Grunde ist es immer dasselbe. Froh zu sein, daß man noch da ist.« Elisabeth trank ihr Glas aus. »Manchmal glaube ich, wir wüßten schon etwas mit dem Leben anzufangen, wenn man uns nur ließe.»

»Wir sind im Augenblick ganz gut dabei«, sagte Graeber. Die Fenster standen offen. Ein Haus schräg gegenüber war am Abend vorher von einer Bombe getroffen worden, und die Scheiben in Elisabeths Zimmer waren zerbrochen. Sie hatte die Rahmen mit schwarzem Luftschutzpapier bespannt, aber davor leichte helle Vorhänge angebracht, die im Winde wehten. Der Raum sah dadurch weniger nach einer Gruft aus.

Das Zimmer war ohne Licht. Sie konnten so die Fenster offenlassen. Ab und zu hörten sie auf der Straße Leute vorübergehen. Ein Radio spielte irgendwo. Haustüren klappten. Jemand hustete. Fensterläden wurden geschlossen. »Die Stadt gehtschlafen«,sagteElisabeth.»Undichbinziemlichbetrunken.« Sie lagen nebeneinander auf dem Bett. Auf dem Tisch standen die Reste des Abendessens und die Flaschen, außer dem Wodka, dem Kognak und einer Flasche Champagner. Sie hatten nichts weggeräumt; sie erwarteten, noch einmal hungrig zu werden. Den Wodka hatten sie getrunken. Der Kognak stand neben dem Bett auf dem Boden, und hinter dem Bett rauschte das Wasser im Waschbecken. Der Champagner lag darin und kühlte. Graeber stellte sein Glas auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Er lag in der Dunkelheit, und ihm schien, als wäre er in einer kleinen Stadt vor dem Kriege. Ein Brunnen rauschte, eine Linde summte mit Bienen, Fenster wurden geschlossen, und irgendwo spielte jemand vor dem Schlafengehen auf der Geige. »Der Mond muß

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bald kommen«, sagte Elisabeth. Der Mond muß bald kommen, dachte er. Der Mond, die Zärtlichkeit und das einfache Glück der Kreatur. Sie waren schon da. Sie waren in den schläfrigen Kreisen seines Blutes, in der ruhigen Wunschlosigkeit seines Gehirns und in dem langsamen Atem, der wie ein müder Wind durch ihn wehte. Das Gespräch mit Pohlmann fiel ihm ein. Es war endlos weit weg. Sonderbar, dachte er, daß hinter klarer Hoffnungslosigkeit so dicht so viel starkes Empfinden stehen kann. Aber vielleicht war es auch nicht sonderbar; vielleicht konnte es gar nicht anders sein. Solange man voller Fragen war, war man unfähig zu vielem anderen. Erst wenn man nichts mehr erwartete, war man offen für alles und ohne Furcht.

Ein Lichtschein huschte über das Fenster. Er verschwand, flackerte und blieb stehen. »Ist das schon der Mond?« fragte Graeber.

»Er kann es nicht sein. Mondlicht ist nicht so weiß.« Sie hörten Stimmen. Elisabeth stand auf und schlüpfte in ein Paar Pantoffeln. Sie ging zum Fenster und lehnte sich hinaus.

Sie suchte nicht nach einem Überwurf oder einem Morgenrock.

Sie war schön und dessen sicher und deshalb ohne Scham. »Es ist ein Aufräumungstrupp vom Luftschutz«, sagte sie. »Sie haben einen Scheinwerfer bei sich und Schaufeln und Hacken und sind bei dem Haus gegenüber. Glaubst du, daß noch Leute im Keller verschüttet sein können?»

»Haben sie tagsüber gegraben?»

»Ich weiß es nicht. Ich war nicht hier.»

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»Vielleicht wollen sie nur die Leitung reparieren.»

»Ja, vielleicht.« Elisabeth kam zurück. »Manchmal nach einem Angriff habe ich gewünscht, daß ich hierher zurückkäme und die Wohnung wäre verbrannt. Die Wohnung, die Möbel, die Kleider und die Erinnerung. Alles. Verstehst du das?»

»Ja.»

»Ich meine nicht die Erinnerung an meinen Vater. Ich meine all das andere, die Angst, die Trostlosigkeit, den Haß. Wenn das Haus verbrannt wäre, wäre auch das vorbei, dachte ich, und ich könnte von neuem anfangen.« Graeber sah sie an. Der bleiche Schein von draußen fiel über ihre Schultern. Man hörte das dumpfe Aufschlagen der Hacken und das Kratzen der Schaufeln. »Gib mir die Flasche aus dem Waschbecken«, sagte er. »Die vom Germania?»

»Ja. Wir wollen sie trinken, bevor sie in die Luft fliegt. Und leg die andere von Binding hinein. Wer weiß, wann der nächste Angriff kommt. Diese kohlensäurehaltigen Flaschen explodieren schon vom Luftdruck. Sie sind im Hause gefährlich wie Handgranaten. Haben wir Gläser?»

»Wassergläser.»

»Wassergläser sind richtig für Champagner. In Paris haben wir ihn so getrunken.»

»Warst du in Paris?»

»Ja. Im Anfang des Krieges.« Elisabeth brachte die Gläser und hockte sich neben ihn. Er öffnete die Flasche vorsichtig. Der Wein sprudelte in die Gläser und schäumte auf. »Wie lange warst du in Paris?»

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»Ein paar Wochen.»

»Haben Sie euch sehr gehaßt drüben?»

»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich habe nicht viel davon gemerkt. Wir wollten es auch nicht merken. Wir glaubten noch an das meiste, was man uns beigebracht hatte. Und wir wollten rasch mit dem Kriege fertig sein und vor den Cafés auf den Straßen in der Sonne sitzen und Wein trinken, den wir nicht kannten. Wir waren sehr jung.»

»Jung — du sagst das, als wäre es vor vielen Jahren gewesen.» »Es scheint auch so.»

»Bist du heute nicht mehr jung?»

»Doch. Aber anders.« Elisabeth hob ihr Glas gegen das Karbidlicht von draußen, das im Fenster zuckte. Sie schüttelte es leicht und beobachtete, wie der Wein aufschäumte. Graeber sah ihre Schultern und die Welle des Haares und den Rücken und die Linie der Wirbelsäule mit den langen sanften Schatten

— sie braucht nicht darüber nachzudenken, neu anzufangen, dachte er. Sie hatte nichts mit dem Zimmer und ihrem Beruf und Frau Lieser zu tun, wenn sie keine Kleider trug. Sie gehörte zu dem Zucken vor dem Fenster und der unruhigen Nacht, zu der blindenAufregungdesBlutesunddersonderbarenEntfremdung nachher, zu den heiseren Rufen und Stimmen von draußen, zum Leben und meinetwegen auch zu den Toten, die man ausgrub — aber sie gehörte nicht zum Zufall, zur Leere und zur sinnlosen Verlorenheit. Nicht mehr! Sie schien eine Verkleidung abgeworfen zu haben und plötzlich ohne Nachdenken Gesetzen zu folgen, von denen sie gestern noch nichts gewußt hatte.

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»Ich wollte, ich wäre mit dir in Paris gewesen«, sagte sie. »Ich wollte, wir könnten jetzt hinfahren, und es wäre kein Krieg.»

»Würden sie uns hineinlassen?»

»Vielleicht. Wir haben nichts in Paris zerstört.» »Aber in Frankreich?»

»Nicht so viel wie in andern Ländern. Es ging rasch.» »Vielleicht habt ihr genug zerstört, damit sie uns noch für

viele Jahre hassen.»

»Ja, vielleicht. Man vergißt vieles, wenn lange Krieg ist. Vielleicht hassen sie uns.»

»Ich wollte, wir könnten in ein unzerstörtes Land gehen.» »Es gibt nicht mehr viele Länder, die nicht zerstört sind«,

sagte Graeber. »Ist noch etwas zu trinken da?» »Ja, genug. Wo warst du noch?»

»In Afrika.»

»In Afrika auch? Du hast viel gesehen.»

»Ja. Aber nicht so, wie ich es mir früher erträumt habe.« Elisabeth hob die Flasche vom Boden und goß die Gläser voll. Graeber sah ihr zu. Es schien alles etwas unwirklich zu sein, und es kam nicht nur daher, weil sie getrunken hatten. Die Worte wehten im Zwielicht hin und her, sie waren ohne Bedeutung, und das, was von Bedeutung war, war ohne Worte, und man konnte nicht darüber sprechen. Es war wie das Schwellen und Sinken eines namenlosen Flusses, und die Worte waren Segel, die darüber hinwegkreuzten. »Warst du sonst noch irgendwo?« fragteElisabeth.Segel,dachteGraeber.WohatteerSegelgesehen, auf Flüssen? »In Holland«, sagte er. »Das war ganz im Anfang.

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Da waren Boote, die durch die Kanäle glitten, und die Kanäle waren so flach und niedrig, als führen die Boote über Land. Sie waren lautlos und hatten große Segel, und es war merkwürdig, wenn sie in der Dämmerung durch das Land glitten wie riesige weiße und blaue und rote Schmetterlinge.»

»Holland«, sagte Elisabeth. »Wir könnten vielleicht nach dem Kriege dahin gehen. Wir könnten Kakao trinken und weißes Brot essen und die vielen holländischen Käse und abends den Booten zusehen.« Graeber sah sie an. Essen, dachte er. Im Kriege waren die Vorstellungen von Glück immer mit Essen verbunden.

»Oder können wir auch da nicht mehr hin?« fragte sie. »Ich glaube nicht. Wir haben Holland überfallen und Rotterdam ohne Warnung zerstört. Ich habe die Ruinen gesehen. Es stand fast kein Haus mehr. Dreißigtausend Tote. Ich fürchte, man wird uns auch da nicht hineinlassen, Elisabeth.« Sie schwieg eine Zeitlang. Dann hob sie plötzlich ihr Glas und warf es auf den Boden. Es klirrte und brach. »Wir können nirgendwo mehr hin!« rief sie. »Was träumen wir nur! Nirgendwohin! Wir sind gefangen und ausgeschlossen und verflucht!« Graeber richtete sich auf. Ihre Augen glänzten wie graues, durchsichtiges Glas in dem zitternden kalkigen Licht von draußen. Er beugte sich über sie und sah auf den Fußboden. Die Splitter schimmerten dort dunkel mit weißen Rändern. »Wir müssen Licht machen und sie aufsuchen«, sagte er. »Sonst treten wir sie uns in die Füße. Warte, ich schließe erst die Fenster.« Er kletterte über die Querseite des Bettes. Elisabeth drehte den Schalter an und griff nach ihrem Morgenrock. Das Lampenlicht machte sie schamhaft. »Sieh mich nicht an«, sagte sie. »Ich weiß nicht, weshalb ich es getan

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habe. Ich bin sonst nicht so.»

»Du bist schon so. Und du hast recht. Du gehörst nicht hierher. Du kannst ruhig schon einmal etwas kaputtwerfen.»

»Ich wollte, ich wüßte, wohin ich gehöre.« Graeber lachte. »Ich weiß es auch nicht. In einen Zirkus vielleicht oder in ein Barockhaus oder zwischen Stahlmöbel oder in ein Zelt. Nicht in dieses weiße Mädchenzimmer. Und ich habe am ersten Abend geglaubt, du wärest schutzbedürftig und hilflos!»

»Das bin ich auch.»

»Das sind wir alle. Aber wir kommen auch ohne Schutz und Hilfe durch.« Er nahm eine Zeitung, legte sie auf den Boden und schob mit einer anderen die Glassplitter darauf. Dabei sah er die Überschriften: Weitere Verkürzungen der Linien. Schwere Kämpfe bei Orel. Er faltete die Zeitung über den Splittern zusammen und steckte sie in den Papierkorb. Das warme Licht des Zimmers schien plötzlich doppelt warm zu sein. Von draußen kam das Hämmern und Bohren des Aufräumetrupps. Auf dem Tisch standen die Geschenke Bindings. Man konnte manchmal an viele Dinge zugleich denken, dachte er.

»Ich will den Tisch rasch abräumen«, sagte Elisabeth. »Ich kann ihn plötzlich nicht mehr sehen.»

»Wohin?»

»In die Küche. Wir haben Zeit bis morgen abend, um den Rest zu verstecken.»

»Morgen abend wird nicht mehr allzuviel davon übrig sein. Aber wie ist es, wenn Frau Lieser früher wiederkommt?»

»Dann kommt sie eben früher wieder.« Graeber sah Elisabeth

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überrascht an. »Ich wundere mich selber darüber, wie ich mich jeden Tag ändere«, sagte sie.

»Nicht jeden Tag. Jede Stunde.» »Und du?»

»Ich auch.» »Ist das gut?»

»Ja. Und wenn es nicht gut ist, macht es nichts.» »Nichts macht etwas, wie?»

»Doch.« Elisabeth drehte das Licht ab. »Wir können jetzt die Gruft wieder öffnen«, sagte sie.

Graeber machte die Fenster auf. Der Wind kam sofort herein. Die Vorhänge wehten. »Da ist der Mond«, sagte Elisabeth. Die Scheibe kam schwelend und Rot über das zerstörte Dach gegenüber hervor. Sie war wie ein Ungeheuer, das sich mit glühendem Schädel in die Straße einfraß. Graeber nahm zwei Wassergläser und füllte sie bis zur Hälfte mit Kognak. Er reichte eins Elisabeth hinüber. »Laß uns das jetzt trinken«, sagte er. »Wein ist nichts für die Dunkelheit.« Der Mond stieg höher und wurde feierlicher und goldener. Sie lagen eine Zeitlang und schwiegen. Elisabeth wandte den Kopf. »Sind wir eigentlich glücklich oder unglücklich?« fragte sie.

Graeber dachte nach. »Wir sind beides. So muß es auch wohl sein. Glücklich allein sind heute bloß noch die Kühe. Oder vielleicht auch die nicht mehr. Vielleicht sind es nur noch die Steine.« Elisabeth sah Graeber an. »Auch das macht nichts, was?»

»Nein.»

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»Macht irgendwas was?»

»Ja.« Graeber sah in das kalte, goldene Licht, das den Raum langsam füllte. »Wir sind nicht mehr tot«, sagte er. »Und wir sind noch nicht tot.«

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16Es war Sonntagmorgen, Graeber stand in der Hakenstraße. Er bemerkte, daß sich etwas im Aussehen der Ruine verändert hatte. Die Badewanne

warverschwunden;ebensoderRestderTreppe,undeinschmaler Weg war ausgeschaufelt worden, der um die Mauer zum Hof führte und von da seitlich in den Rest des Hauses. Es sah aus, als ob ein Aufräumetrupp angefangen hätte zu arbeiten.

Graeber drückte sich durch den ausgeschaufelten Eingang und kam in einen halb verschütteten Raum, in dem er die frühere Waschküche des Hauses erkannte. Von dort ging ein dunkler, niedriger Korridor weiter. Er zündete ein Streichholz an und leuchtete hinein.

»Was machen Sie da?« schrie plötzlich jemand hinter ihm. »Kommen Sie sofort heraus!« Er drehte sich um. Er konnte im Dunkeln niemanden sehen und ging zurück. Ein Mann mit Krücken unter den Armen stand draußen. Er trug einen Zivilanzug und darüber einen Militärmantel. »Was treiben Sie hier?« schnauzte er. »Ich wohne hier. Und Sie?»

»Ich wohne hier, und sonst wohnt keiner hier, verstanden? Sie bestimmt nicht! Was schnüffeln Sie hier herum? Stehlen?»

»Mensch, reg dich nicht auf«, sagte Graeber und sah auf die Krücken und den Militärmantel. »Meine Eltern haben hier gewohnt und ich auch, bis ich zu den Preußen kam. Bist du nun zufrieden?»

»Das kann jeder behaupten.« Graeber nahm den Krüppel an den Krücken, schob ihn vorsichtig beiseite und ging an ihm vorbei aus dem Gang hinaus. Er sah draußen eine Frau mit einem

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