
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdf»Nein. Es waren zu viele Parteimitglieder in Uniform da. Ich bin nicht mitgegangen. Ich habe nur die Rede des Obersturmbannführers Hildebrandt gehört. Er sagte, wir alle sollten Alfons nacheifern und seinen letzten Willen erfüllen. Er meinte damit den rücksichtslosen Kampf gegen den Feind. Aber der letzte Wille Bindings war anders. Alfons war im Pyjama im Keller mit einer blonden Frau im Nachthemd.« Graeber schüttete das Fleisch und das Kompott in zwei Schüsseln, die Frau Witte ihnen gegeben hatte. Dann schnitt er Brot und öffnete eine Flasche Wein. Elisabeth erhob sich. Sie stand nackt vor dem Walnußbett. »Du siehst wahrhaftig nicht aus wie jemand, der seit Monaten krummgebückt Militärmäntel näht«, sagte Graeber. »Du siehst aus wie jemand, der jeden Tag Gymnastik macht.»
»Gymnastik? Gymnastik macht man nur, wenn man verzweifelt ist.»
»Tatsächlich? Das würde mir nie einfallen.»
»Nur das«, sagte Elisabeth. »Gymnastik, bis man sich nicht mehr bücken kann, herumrennen, bis man todmüde ist, das Zimmer zehnmal aufräumen, die Haare bürsten, bis der Kopf schmerzt, und so etwas mehr.»
»Hilft das?»
»Nur bei der vorletzten Verzweiflung. Wenn man nicht mehr denken will. Bei der letzten hilft gar nichts, als sich fallenzulassen.»
»Und dann?»
»Warten, bis das Leben einen wieder irgendwo anspült. Ich
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meine das Leben, das macht, daß man atmet. Nicht das, das man lebt« Graeber hob sein Glas. »Ich glaube, wir wissen für unsere Jahre zuviel über Verzweiflung. Wir wollen das vergessen.»
»Wir wissen auch schon zuviel über das Vergessen«, sagte Elisabeth. »Wir wollen auch das vergessen.»
»Gut. Es lebe Frau Kleinert, die diesen Hasen eingemacht hat.»
»Und es lebe Frau Witte, die uns den Garten und dieses Zimmer gegeben hat.« Sie tranken ihre Gläser leer. Der Wein war kalt und aromatisch und jung. Graeber füllte die Gläser wieder. Der Mond stand golden in ihnen. »Mein Geliebter«, sagte Elisabeth. »Es ist gut, nachts auf zu sein. Man redet dann soviel leichter.»
»Das ist wahr. Nachts bist du ein gesundes, junges Kind Gottes, und keine Näherin von Militärmänteln. Und ich bin kein Soldat.»
»Nachts ist man das, was man eigentlich sein soll; nicht das, was man geworden ist.»
»Vielleicht.« Er sah auf den Hasen, das Kompott und das Brot. »Danach sind wir ziemlich oberflächliche Menschen. Wir tun nachts nicht viel mehr als schlafen und essen.»
»Und uns lieben. Das ist nicht oberflächlich.» »Und trinken.»
»Und trinken«, sagte Elisabeth und hielt ihm ihr Glas hin. Graeber lachte. »Dabei sollten wir eigentlich sentimental und traurig sein und tiefe Gespräche führen. Statt dessen haben wir einen halben Hasen gegessen und finden das Leben wunderbar
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und danken Gott.»
»Das ist besser. Oder nicht?»
»Es ist das einzige. Wenn man keine Ansprüche stellt, ist alles ein Geschenk.»
»Hast du das im Felde gelernt?» »Nein, hier.»
»Das ist gut. Es ist eigentlich alles, was man zu lernen braucht, wie?»
»Ja. Danach braucht man nur noch ein bißchen Glück.» »Haben wir das auch gehabt?»
»Ja. Wir haben alles gehabt, was es gibt.» »Du bist nicht traurig, weil es vorbei ist?»
»Esistnichtvorbei.Esändertsichnur.«Siesahihnan.»Doch«, sagte er. »Ich bin traurig. Ich bin so traurig, daß ich glaube, ich werde morgen sterben, wenn ich dich verlasse. Aber wenn ich dann denke, was geschehen müßte, damit ich nicht traurig wäre, dann gibt es nur das eine, daß ich dich nie getroffen hätte. Dann würde ich nicht traurig sein, sondern leer und gleichgültig wieder abfahren. Und wenn ich das denke, dann ist die Trauer keine Trauer mehr. Sie ist ein schwarzes Glück. Die andere Seite des Glücks.« Elisabeth stand auf. »Ich habe es vielleicht nicht richtig ausgedrückt«, sagte Graeber. »Verstehst du, wie ich es meine?»
»Ich verstehe es. Und du hast es ganz richtig ausgedrückt. Man kann es gar nicht besser sagen. Ich wußte, daß du es sagen würdest.« Sie kam zu ihm herüber. Er fühlte sie. Sie hatte plötzlich keinen Namen mehr und alle Namen der Welt. Einen
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Augenblick flammte etwas wie ein unerträgliches weißes Licht durch ihn, und er erkannte, daß alles eins war, Abschied und Wiederkehr, Besitz und Verlust, Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft, und daß immer und überall das steinerne Gesicht der Ewigkeit da war und nicht ausgelöscht werden konnte — dann schien die Erde unter ihm sich zu wölben, er spürte die Rundung unter seinen Füßen, als müßte er abspringen, in einem Sturz vorwärts, und er hielt Elisabeth in seinen Armen und stürzte mit ihr und in sie. —
Es war der letzte Nachmittag. Sie saßen im Garten. Die Katze schlich vorbei. Sie war trächtig und völlig mit sich, selbst beschäftigt und beachtete niemand. »Ich hoffe, daß ich ein Kind haben werde«, sagte Elisabeth plötzlich. Graeber starrte sie an. »Ein Kind? Warum?»
»Warum nicht?»
»Ein Kind? In dieser Zeit? Glaubst du, daß du eins haben wirst?»
»Ich hoffe es.« Er sah sie an. »Ich glaube, ich müßte jetzt etwas sagen oder tun und dich küssen und überrascht und zärtlich sein, Elisabeth. Ich kann es nicht. Es ist zu schnell für mich. An ein Kind habe ich bis jetzt noch nicht gedacht.»
»Das brauchst du auch nicht. Es geht dich nichts an. Ich weiß es auch noch nicht.»
»Ein Kind! Es würde für einen neuen Krieg geradeso zurechtkommen wie wir für diesen. Denk an all das Elend, in das es hineingeboren würde!« Die Katze kam wieder. Sie schlich den Weg entlang zur Küche. »Jeden Tag werden Kinder geboren«,
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sagte Elisabeth. Graeber dachte an die Hitlerjugend und an die Kinder, die ihre Eltern denunziert hatten. »Wozu reden wir darüber?« sagte er. »Es ist ja nur ein Wunsch. Oder nicht?»
»Möchtest du nie ein Kind haben?»
»Das weiß ich nicht. Im Frieden vielleicht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Es ist so viel vergiftet um uns herum, daß der Boden für Jahre noch voll davon sein wird. Wie kann man da ein Kind haben wollen?»
»Gerade deshalb«, sagte Elisabeth. »Warum?»
»Um es dagegen zu erziehen. Was soll werden, wenn diejenigen, die gegen all das sind, was jetzt passiert, keine Kinder haben wollen? Sollen nur die Barbaren welche haben? Wer soll dann die Welt wieder in Ordnung bringen?»
»Willst du deswegen eins haben?»
»Nein. Es ist mir nur gerade eingefallen.« Graeber schwieg. Gegen ihr Argument war nichts zu sagen. Sie hatte recht. »Du bist zu schnell für mich«, sagte er. »Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, verheiratet zu sein, und jetzt soll ich bereits entscheiden, ob ich ein Kind haben will oder nicht.« Elisabeth lachte und stand auf. »Du hast das Einfachste dabei nicht bemerkt — daß ich nicht nur gerade ein Kind haben will, sondern eins von dir. Und jetzt gehe ich mit Frau Witte das Abendessen besprechen. Es soll ein Meisterwerk in Konserven werden.« Graeber saß allein in seinem Stuhl im Garten. Der Himmel war voll von rötlich bestrahlten Wolken. Der Tag war vorbei. Es war ein gestohlener Tag gewesen. Er hatte seinen Urlaub um vierundzwanzig Stunden überschritten. Obwohl er
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sich abgemeldet hatte, war er geblieben. Jetzt war es Abend, und in einer Stunde mußte er fort.
Er war noch einmal auf dem Amt gewesen; aber von seinen Eltern war keine Nachricht mehr gekommen. Er hatte geregelt, waserregelnkonnte.FrauWittehattesichbereiterklärt,Elisabeth weiter bei sich wohnen zu lassen. Er hatte den Keller des Hauses geprüft; er war nicht tief genug, um sicher zu sein, aber er war gut gebaut. Er hatte sich auch den öffentlichen Keller in der Leibnizstraße angesehen; der war so gut wie die meisten andern der Stadt. Ruhig lehnte er sich zurück. Er hörte das Klappern des Geschirrs aus der Küche. Es war ein langer Urlaub gewesen. Drei Jahre, nicht drei Wochen. Sie erschienen ihm zwar manchmal noch nicht ganz sicher, nur hastig auf schwankendem Grunde gebaut; doch er wollte glauben, daß sie sicher wären.
Er hörte Elisabeths Stimme. Er dachte über das nach, was sie über ein Kind gesagt hatte. Es war gewesen, als würde plötzlich eine Wand durchbrochen. Eine Öffnung erschien, und dahinter schwankte ungewiß wie ein Garten ein Stück Zukunft. Graeber hatte nie über die Wand hinausgedacht. Er hatte wohl, als er kam, etwas finden wollen und es nehmen und besitzen, um es zurückzulassen, bevor er wieder fortging, etwas, das seinen Namen und damit ihn selber trug — aber der Gedanke an ein Kind war nie dabeigewesen. Er blickte in die Dämmerung, die zwischen den Fliederbüschen hing. Wie endlos das wurde, wenn man es weiterverfolgte, und wie sonderbar es war, zu fühlen, daß das Leben über die Wand, vor der es bisher aufgehört hatte, weitergehen könnte, und daß das, was er bisher fast wie einen hastigen Raub betrachtet hatte, noch einmal ruhiger Besitz
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werden könnte, weiterzugeben an fremdes, ungeborenes Dasein in eine Ferne, die kein Ende hatte und voll von einer Zärtlichkeit war, die er nie gekannt hatte. Wieviel Weite das gab und wie viel Ahnung, und wie sehr etwas in ihm es wollte und nicht wollte und doch wollte, diesen armen und trostvollen Betrug der Unsterblichkeit.
»Der Zug fährt um sechs Uhr«, sagte er. »Ich habe alle meine Sachen erledigt. Ich muß jetzt fort. Bring mich nicht zur Bahn. Ich will von hier weggehen und will das von hier mitnehmen — so wie du hier lebst, nicht das Gedränge und die Verlegenheit am Bahnhof. Meine Mutter hat mich das letzte Mal hingebracht. Ich konnte nichts dagegen machen. Es war schrecklich für sie und für mich. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich darüber wegkam, und später war es immer das, woran ich mich erinnerte — die weinende, müde, schwitzende Frau auf dem Bahnsteig, nicht meine Mutter, wie sie wirklich war. Verstehst du das?»
»Ja.»
»Gut. Dann laß es uns so machen. Du sollst mich auch nicht da sehen, wo ich wieder nichts mehr sein werde als eine Nummer und ein wie ein Esel bepacktes Stück Kommiß. Ich will von dir weggehen, so wie wir hier sind. Und jetzt nimm dieses Geld; ich habe es übrigbehalten. Draußen brauche ich es nicht.»
»Ich brauche kein Geld. Ich verdiene genug für mich.»
»Ich kann es draußen nicht ausgeben. Nimm es, und kauf dir ein Kleid dafür. Ein sinnloses, unnützes, schönes Kleid zu der kleinen goldenen Kappe, die du hast.»
»Ich werde dir Pakete dafür schicken.»
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»Schick mir keine. Wir haben draußen mehr zu essen als ihr hier. Aber kauf dir ein Kleid. Ich habe etwas gelernt, als du dir den Hut kauftest. Versprich mir, daß du dir ein Kleid kaufst. Ein ganz unnützes, nicht ein praktisches. Oder ist es zuwenig dafür?»
»Es ist genug. Es reicht sogar noch für ein Paar Schuhe.» »Das ist großartig. Kauf dir ein Paar goldene Schuhe.» »Gut«, sagte Elisabeth. »Goldene Schuhe mit hohen Hacken
und federleicht. Ich werde dir damit entgegenlaufen, wenn du wiederkommst.« Graeber holte aus seinem Tornister das dunkle, gemalte Heiligenbild, das er seiner Mutter hatte mitbringen wollen. »Hier ist etwas, das ich in Rußland gefunden habe. Behalte es.»
»Nein, Ernst. Gib es jemand anderem. Oder nimm es wieder mit.
Es ist zu sehr — zu endgültig. Nimm es zurück.« Er betrachtete das Bild. »Ich habe es in einem zerstörten Hause gefunden«, sagte er. »Vielleicht ist kein Glück darin. Ich habe nie daran gedacht.« Er packte es wieder ein. Es war ein heiliger Nikolaus auf Goldgrund mit vielen Engeln.
»Wenn du willst, kann ich es in die Kirche bringen«, sagte Elisabeth. »In die, in der wir geschlafen haben. Die Katharinenkirche.« In die, in der wir geschlafen haben, dachte er. Gestern war das noch nahe; jetzt ist es schon endlos weit weg. »Die nehmen es nicht«, sagte er. »Es ist eine andere Art von Religion. Die Verwalter des Gottes der Liebe sind nicht besonders tolerant.« Er dachte daran, daß er das Bild mit der
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Asche Kruses in das Grab des Domkapitulars Blümer hätte legen können. Aber auch das wäre wahrscheinlich nur noch ein Sakrileg mehr gewesen.
Er sah sich nicht um. Er ging nicht zu langsam und nicht zu schnell. Der Tornister war schwer, und die Straße war sehr lang. Als er um die Ecke bog, bog er um viele Ecken. Einen Augenblick noch war der Geruch von Elisabeths Haar da; dann wurde er überweht von altem Brandgeruch, von der späten Nachmittagsschwüle und von dem süßlich faulen Geruch der Verwesung, der mit dem wärmeren Wetter aus den Ruinen stieg. Er ging über den Wall. Die eine Seite der Lindenallee war schwarzgebrannt, die andere grünte. Der Fluß war verstopft und kroch träge über Mörtel, Stroh, Säcke, Geländerreste und Betten. Wenn jetzt ein Angriff käme, dachte er. Ich müßte in Deckung gehen und hätte Grund, den Zug zu versäumen. Was würde Elisabeth sagen, wenn ich plötzlich vor ihr stünde? Er dachte darüber nach. Er wußte es nicht. Aber alles, was jetzt gut gewesenwar,würdesichwahrscheinlichinSchmerzverwandeln. Es war wie am Bahnhof, wenn ein Zug verspätet abging und man noch eine halbe Stunde Zeit hatte und sie in verlegenem Gespräch dahinschleppen mußte. Außerdem würde er nichts gewinnen; bei einem Angriff würde der Zug auch nicht fahren, sondern warten, und er würde ihn erreichen müssen. Er kam zur Bramscherstraße. Von hier hatte er seinen ersten Weg in die Stadt genommen. Der Omnibus, der ihn gebracht hatte, stand da und wartete. Er kletterte hinein. Nach zehn Minuten führen sie ab. Der Bahnhof war inzwischen wieder anderswohin verlegt worden. Er war jetzt ein Wellblechdach, das gegen Fliegersicht
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bemalt war. An einer Seite waren graue Tücher gespannt, daneben hatte man als Deckung künstliche Bäume eingesetzt und einen Stall gebaut, aus dem eine hölzerne Kuh herübersah. Auf einer Weide grasten zwei alte Pferde. Der Zug stand bereits da. Eine Anzahl Wagen trug Schilder: Nur für Militär. Eine Wache kontrollierte die Papiere. Sie sagte nichts dazu, daß Graeber einen Tag zu spät war. Er stieg ein und fand einen Platz neben dem Fenster. Nach einer Weile kamen noch drei Leute; ein Unteroffizier, ein Gefreiter mit einer Narbe und ein Artillerist, der sofort anfing zu essen. Eine Gulaschkanone wurde auf dem Bahnsteig aufgefahren. Zwei junge Hilfsschwestern und eine ältere mit einem eisernen Hakenkreuz als Brosche erschienen, »Es gibt Kaffee«, sagte der Unteroffizier. »Sich mal an!»
»Nicht für uns«, erwiderte der Gefreite. »Das ist für einen Transport von Rekruten, der zum erstenmal rausgeht. Ich habe es vorhin gehört. Es gibt auch noch eine Rede. Für uns macht man das nicht mehr.« Eine Schar Flüchtlinge wurde herangeführt. Sie wurden abgezählt und standen mit ihren Kartons und Handkoffern in zwei Linien und starrten auf den Kaffeekessel. Ein paar SS-Offiziere tauchten auf. Sie trugen elegante Stiefel und Reithosen und wanderten wie Störche den Bahnsteig entlang. Drei weitere Urlauber kamen in das Abteil. Einer öffnete das Fenster und lehnte hinaus, Draußen stand eine Frau mit einem Kind. Graeber sah das Kind an, und dann sah er die Frau an. Sie hatte einen faltigen Hals, dicke Augenlider, dünne hängende Brüste und trug ein verwaschenes Sommerkleid, auf das blaue Windmühlen gedruckt waren, Alles schien ihm viel deutlicher als sonst — das Licht und alles, was er sah. »Also dann, Heinrich«,
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