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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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Platz. Er schrieb auf einen Zettel, daß dieses die Asche eines katholischen Häftlings aus dem KZ sei. Er tat es für den Fall, daß man die Zigarrenkiste entdecken würde. Den Zettel schob er unter das braune Papier. Mit seinem Seitengewehr schnitt er dann ein Stück Gras aus und vergrößerte vorsichtig den Erdspalt, bis er die Kiste hineinschieben konnte. Es ging leicht. Die Erde, die er herausgeholt hatte, drückte er wieder in das Loch zurück und deckte dann das Gras darüber. Bernhard Kruse, wenn er es war, hatte so einen Platz in geweihter Erde gefunden, zu Füßen eines hohen kirchlichen Würdenträgers.

Graeber ging zurück und setzte sich auf die Mauer des Kreuzganges. Die Steine waren warm von der Sonne. Vielleicht ist es ein Sakrileg, dachte er. Vielleicht auch nur eine überflüssige Sentimentalität. Bernhard Kruse war Katholik gewesen, und es war für Katholiken verboten, verbrannt zu werden; aber das mußte die Kirche wohl wegen der besonderen Umstände übersehen. Und wenn es gar nicht Kruse war, der in der Kiste war, sondern die Asche von verschiedenen Opfern, vielleicht auch von Protestanten und orthodoxen Juden, so würde auch das wohl in diesem Falle hingehen, dachte er. Weder Jehova noch der Gott der Protestanten oder der der Katholiken würde allzuviel dagegen einzuwenden haben.

Er blickte auf das Grab, in das die Zigarrenkiste wie ein Kuckucksei in ein Nest hineingestohlen war. Den ganzen Weg über hatte er wenig gefühlt; aber jetzt, nachdem alles vorüber war, empfand er eine tiefe und endlose Bitterkeit. Es war mehr als nur der Gedanke an den Toten. Pohlmann war darin und Josef und all das Elend, das er gesehen hatte.

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Er stand auf. In Paris hatte er das Grab des Unbekannten Soldaten gesehen; prunkvoll, unter dem Triumphbogen, in den die großen Schlachten Frankreichs eingemeißelt waren. Ihm schien, als wäre das eingesunkene Stück Rasen mit der Platte des Domkapitulars Blümer und der Zigarrenkiste darunter etwas Ähnliches, und vielleicht sogar mehr — ohne den Regenbogen des Ruhms und der Schlachten.

»Wo schlafen wir heute abend?« fragte Elisabeth. »In der Kirche?»

»Nein. Ein Wunder ist passiert. Ich war bei Frau Witte. Sie hat ein Zimmer frei. Ihre Tochter ist vor ein paar Tagen aufs Land gezogen. Wir können da bleiben, und du kannst es vielleicht sogar behalten, wenn ich weg bin. Ich habe schon alle unsere Sachen hinübergeschafft. Ist dein Urlaub durchgekommen?»

»Ja. Ich brauche nicht mehr zurück. Und du brauchst nicht mehr auf mich zu warten.»

»Gott sei Dank! Wir werden das heute abend feiern! Wir werden die ganze Nacht aufbleiben und morgen bis mittags schlafen.»

»Ja. Wir werden im Garten sitzen, bis alle Sterne da sind. Aber vorher gehe ich noch rasch und kaufe mir einen Hut. Heute ist der Tag dafür.»

»Was willst du denn mit einem Hut? Willst du ihn heute abend im Garten tragen?« Elisabeth lachte. »Das vielleicht auch. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß man ihn kauft. Es ist ein symbolischer Akt. Ein Hut ist wie eine Flagge. Man kauft ihn, wenn man glücklich oder wenn man unglücklich ist. Du

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verstehst das nicht, was?»

»Nein. Aber laß uns einen kaufen. Wir werden deine Freiheit damit feiern. Das ist notwendiger als das Abendessen! Gibt es noch Läden, die offen sind? Und brauchst du dafür nicht eine Kleiderkarte?»

»Die habe ich. Und ich weiß auch, wo es Hüte gibt.»

»Gut. Wir werden einen Hut zu dem goldenen Kleid kaufen.» »Dazu braucht man keinen. Es ist ein Abendkleid. Wir werden einfach irgendeinen Hut kaufen. Es ist absolut notwendig. Damit ist die Fabrik erledigt.« Ein Stück Schaufenster des Ladens war erhalten. Der Rest war mit Brettern vernagelt. Sie spähten hinein. Zwei Hüte lagen darin. Einer war mit künstlichen Blumen garniert, der andere mit bunten Federn. Graeber betrachtete sie zweifelnd; er konnte sich Elisabeth nicht damit vorstellen. Dann sah er, daß eine weißhaarige Frau gerade die Tür abschließen

wollte. »Rasch!« sagte er.

Die Besitzerin führte sie in einen Raum hinter dem Laden, der abgeblendet war. Sie begann sofort ein Gespräch mit Elisabeth, von dem Graeber nichts verstand. Er setzte sich auf einen zerbrechlichen goldenen Stuhl neben der Tür. Die Besitzerin knipste Licht vor einem Spiegel an und holte aus Kartons Hüte und Stoffe hervor. Der graue Laden wurde plötzlich zu einer Zauberhöhle. Das Blau und Rot und Rosa und Weiß der Hüte flammte auf, und dazwischen schimmerte das bunte Gewirk von Brokaten, als wären es Kronen, die probiert würden für ein geheimnisvolles Fest. Elisabeth bewegte sich in dem Lichtsturz vor dem Spiegel hin und her, als wäre sie soeben einem Bilde

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entstiegen und hinter ihr schlüge noch die Dämmerung zusammen, in die der übrige Raum getaucht war. Graeber saß sehr still da und betrachtete die Szene, die unwirklich erschien nach allem, was tagsüber passiert war. Er sah Elisabeth zum erstenmal völlig losgelöst von der Zeit, bei sich selbst, hingegeben einer unbefangenen und tiefen Spielerei, überschüttet von Licht und Zärtlichkeit und Liebe, ernst und gesammelt wie eine Jägerin, die ihre Waffen zum Kampfe prüft. Er hörte das leise Gespräch der beiden, ohne zuzuhören, es war wie das Murmeln einer Quelle, er sah den hellen Kreis, der Elisabeth umwehte, als strahlte sie ihn aus, und er liebte sie und begehrte sie und vergaß alles andere über diesem lautlosen Glück, hinter dem der unbegreifbare Schatten des Verlustes stand, nur um es noch tiefer zu machen, noch leuchtender und so kostbar und flüchtig wie die Reflexe auf den kleinen Seidenund Brokatfetzen. »Eine Kappe«, sagte Elisabeth. »Eine einfache Kappe aus Gold, die den Kopf fest umschließt.«

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24Die Sterne standen im Fenster. Wilder Wein rankte um das kleine Viereck, und ein paar Reben hingen herunter und schwankten im Winde

wie die dunklen Pendel einer lautlosen Uhr. »Ich weine nicht wirklich«, sagte Elisabeth. »Und wenn ich weine, kümmere dich nicht darum. Ich bin es nicht, es ist nur etwas in mir, und es will heraus. Manchmal hat man nichts als Weinen. Es ist keine Trauer. Ich bin glücklich.« Sie lag in seinem Arm, den Kopf an seine Schulter gepreßt. Das Bett war breit und aus altem dunklem Walnußholz. Die Enden waren hoch und geschweift. Eine Walnußkommode stand in der Ecke, und vor dem Fenster ein Tisch mit zwei Stühlen. An der Wand hing ein Glaskasten, der einen alten Brautkranz aus künstlichen Myrten enthielt, und ein Spiegel, in dem die Reben und das wehende fahle Licht von draußen sich dunkel und hell bewegten.

»Ich bin glücklich«, sagte Elisabeth. »Es ist so viel geschehen in diesen Wochen, daß ich nicht alles in mich hineinpressen kann. Ich habe es versucht. Es geht nicht. Du mußt heute nacht Geduld mit mir haben.»

»Ich wollte, ich könnte dich noch aus der Stadt herausbringen, irgendwohin in ein Dorf.»

»Es ist gleich, wo ich bin, wenn du fort bist.»

»Es ist nicht gleich. Dörfer werden nicht bombardiert.» »Irgendwannwerdensiesicheraufhören,unszubombardieren. Es steht ja fast nichts mehr von der Stadt. Ich kann nicht

weg, solange ich in die Fabrik muß. Ich bin froh, daß ich dieses verzauberte Zimmer habe. Und Frau Witte.« Sie atmete ruhiger.

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»Ich bin gleich fertig mit mir«, sagte sie. »Halte mich nicht für allzu hysterisch. Ich bin glücklich. Aber es ist ein schwankendes Glück. Kein gleichförmiges Kuhglück.»

»Kuhglück«, sagte Graeber. »Wer will das?»

»Ich weiß nicht, ich glaube, ich könnte schon eine ganze Menge davon für längere Zeit aushalten.»

»Ich auch. Ich will es nur nicht zugeben, weil wir es vorläufig nicht haben können.»

»Zehn Jahre sicheres, gutes, einförmiges, bürgerliches Kuhglück — ich glaube sogar, ein ganzes Dasein voll damit wäre nicht zuviel!« Graeber lachte. »Das kommt davon, weil wir so ein verdammt interessantes Leben führen. Unsere Vorfahren dachten anders, die lechzten nach dem Abenteuer und haßten ihr Kuhglück.»

»Wir nicht. Wir sind wieder einfache Menschen mit einfachen Wünschen geworden.« Elisabeth sah ihn an. »Willst du jetzt schlafen? Eine ganze Nacht voll ununterbrochenem Schlaf? Wer weiß, wann du es wieder kannst, wenn du morgen abend abfährst!»

»Ich kann genug schlafen, wenn ich unterwegs bin. Es wird ein paar Tage dauern, bis ich ankomme.»

»Wirst du irgendwann ein Bett haben?»

»Nein. Das Höchste, was ich von morgen an erwarten kann, ist gelegentlich eine Pritsche oder ein Strohsack. Man gewöhnt sich bald daran. Es ist nicht schlimm. Jetzt wird es Sommer. Rußland ist scheußlich im Winter.»

»Vielleicht mußt du noch einmal einen Winter dableiben.»

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»Wenn wir so weiter zurückgehen, sind wir im Winter in Polen oder schon in Deutschland. Da ist es nicht mehr so kalt. Und es ist eine Kälte, die man kennt.« Jetzt wird sie fragen, wann ich wieder auf Urlaub kommen werde, dachte er. Ich wollte, wir hätten das alles schon hinter uns.

Sie muß es fragen, und ich muß antworten, und ich wollte, es wäre vorbei. Ich bin bereits nicht mehr ganz hier, aber das, was von mir da ist, ist, als hätte es keine Haut, und doch kann es nicht wirklich verletzt werden.

Es ist nur empfindlicher als eine offene Wunde. Er blickte auf die Ranken, die vor dem Fenster schwankten, und auf das wehende Silber und Grau im Spiegel, und ihm war, als stände ein Geheimnis sehr dicht dahinter und müßte sich im nächsten Augenblick entschleiern. Dann hörten sie die Sirenen.

»Laß uns hierbleiben«, sagte Elisabeth. »Ich will mich nicht anziehen und in einen Keller rennen.»

»Gut.« Graeber ging zum Fenster. Er schob den Tisch beiseite und sah hinaus. Die Nacht war hell und regungslos. Der Garten glänzte im Mondlicht. Es war eine unwirkliche Nacht zum Träumen und eine gute Nacht für Luftangriffe. Er sah Frau Witte aus der Tür kommen. Ihr Gesicht war sehr blaß. Er öffnete das Fenster.

»Ich wollte Sie schon wecken«, rief sie durch den Lärm. Graeber nickte. »Keller — Leibnizstraße —«, hörte er. Er winkte. Dann sah er, daß sie in das Haus zurückkehrte. Er wartete noch eine Minute. Sie kam nicht zurück. Sie blieb ebenfalls im Hause. Er wunderte sich nicht darüber. Es war, als müßte es so sein.

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Sie brauchte nicht zu gehen; Garten und Haus schienen durch eine unbekannte Magie geschützt. Es war, als blieben sie lautlos und unberührt in dem Heulen, das über sie hinwegjohlte. Die Bäume standen still hinter dem blassen Silber des Rasens. Die Büsche regten sich nicht. Selbst die Ranken vor dem Fenster hatten aufgehört zu pendeln. Die kleine Insel des Friedens lag unter dem Mond wie in einem gläsernen Keller, an dem der Sturm der Zerstörung abprallte.

Graeberdrehtesichum.ElisabethhattesichimBettaufgesetzt. Ihre Schultern schimmerten bleich, und da, wo sie sich rundeten, hatten sie sanfte Schatten. Ihre Brüste waren fest und kühn und schienen größer, als sie waren. Ihr Mund war dunkel und ihre Augen waren durchsichtig und fast ohne Farbe. Sie hatte die Arme hinter sich auf die Kissen gestützt und saß im Bett wie jemand, der von weither plötzlich hereingekommen war. Einen Augenblicklangwarsieebensofremdundstillundgeheimnisvoll wie der Garten draußen im Mond vor dem Weltuntergang. »Frau Witte ist auch hiergeblieben«, sagte Graeber. »Komm.« Er sah, während er zum Bett ging, sein Gesicht in dem grauen und silbernen Spiegel. Er erkannte es nicht. Es war das Gesicht eines anderen. »Komm«, sagte Elisabeth noch einmal. Er beugte sich zu ihr nieder. Sie legte die Arme um ihn. »Es ist gleich, was geschieht«, sagte sie.

»Eskannnichtsgeschehen«,erwiderteer.»DieseNachtnicht.« Er wußte nicht, warum er es glaubte. Es hatte etwas mit dem Garten zu tun und dem Licht und dem Spiegel und mit Elisabeths Schultern und einer großen, weiten Ruhe, die ihn plötzlich bis ins letzte füllte. »Nichts kann geschehen«, wiederholte er. Sie ergriff

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die Decke und warf sie herunter auf den Boden. Sie lag nackt da, aus den Hüften sprangen die Beine, sie waren kräftig und lang, es war ein Körper, der von den Schultern und den Brüsten sich zu einer flachen Bauchgrube verengte, dessen Oberschenkel nicht dünn waren, der zu schwellen und zu stürzen schien, von beiden Seiten, in das Dreieck des Schoßes. Es war der Körper einer jungen Frau und nicht mehr der eines Mädchens.

Er fühlte sie in seinen Armen. Sie glitt gegen ihn, und ihm war, als wären es tausend Hände, die sich verschränkten und ihn hielten und trugen. Nirgendwo waren mehr Zwischenräume, alles war nahe und dicht. Es war nicht mehr die Erregung der erstenTage,eswareinlangsames,stetigesSchwellen,dasrauschte und alles überspülte, die Worte, die Grenzen, den Horizont und dann das Selbst. —

Er hob den Kopf. Er kam von weither zurück. Er lauschte. Er wußte nicht, wie lange er fort gewesen war. Draußen war es still. Er glaubte, sich zu täuschen, und blieb liegen und horchte. Er hörte nichts — keine Detonationen und kein Abwehrfeuer mehr. Er schloß die Augen und sank zurück. Dann erwachte er wieder. »Sie sind nicht gekommen, Elisabeth«, sagte er. »Doch«, murmelte sie.

Sie lagen nebeneinander. Graeber sah die Decke auf dem Boden und den Spiegel und das offene Fenster. Er hatte geglaubt, die Nacht würde nie zu Ende gehen, aber jetzt spürte er, wie langsam die Zeit aufs neue in die Stille hineinspülte. Die Ranken vor dem Fenster pendelten wieder im Winde, ihre Schatten gingen durch den Spiegel, und ferner Lärm begann. Er sah zu Elisabeth hinüber. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Mund

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war geöffnet, und sie atmete tief und ruhig. Sie war noch nicht zurück. Er war schon zurück. Er dachte bereits wieder. Sie war immer länger fort. Ich wollte, ich könnte es auch, dachte er, mich verlieren, vollkommen und lange. Es war etwas, um das er sie beneidete, für das er sie liebte und das ihn etwas erschreckte. Sie war irgendwo, wohin er nicht folgen konnte oder nicht lange genug; das war es vielleicht, was ihn daran erschreckte. Er fühlte sich plötzlich allein und auf eine sonderbare Weise unter« legen.

Elisabeth öffnete die Augen. »Wo sind die Flugzeuge geblieben?»

»Ich weiß es nicht.« Sie strich sich die Haare zurück. »Ich bin hungrig.»

»Ich auch. Wir haben alles mögliche zu essen.« Graeber stand auf und holte die Konserven, die er aus Bindings Keller mitgebracht hatte. »Hier ist Huhn und Kalbfleisch, hier sogar ein Stück Hase und hier Kompott dazu.»

»Laß uns den Hasen nehmen und das Kompott.« Graeber öffnete die Gläser. Er liebte es, daß Elisabeth ihm nicht half, sondern liegenblieb und wartete. Er konnte Frauen nicht leiden, die sich, noch umweht von Geheimnis und von der Dunkelheit, sofort wieder in geschäftige Hausfrauen verwandelten.

»Ich schäme mich jedesmal mit all diesen Sachen von Alfons«, sagte er. »Ich habe mich ziemlich schlecht gegen ihn benommen.»

»Dafür hat er sich bestimmt schlecht gegen jemand anderen benommen. Das gleicht sich aus. Warst du bei seiner Beerdigung?»

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