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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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Kriegsopfer.« Der Küster kam. Er war ein dünner Mann mit einer herabhängenden roten Nase und abfallenden Schultern. Graeber konnte sich nicht vorstellen, daß er den Mut hatte, Leute zu verstecken, die von der Gestapo gesucht wurden. Der Küster ließ die Leute ein. Er gab jedem eine Nummer für seine Habseligkeiten und steckte einen Zettel mit derselben Nummer an die Bündel und Koffer. »Kommen Sie nicht zu spät heute abend«, sagte er zu Graeber. »Wir haben nicht genug Platz in der Kirche.»

»Nicht genug Platz?« Die Katharinenkirche war ein weitläufiges Gebäude.

»Nein. Das Kirchenschiff wird nicht als Unterkunft benutzt. Nur die Räume darunter und die Seitengänge.»

»Wo schlafen die Leute, die zu spät kommen?»

»In den Kreuzgängen, die noch erhalten sind. Manche auch im Kreuzgarten.»

»Sind die Räume unter dem Kirchenschiff bombensicher?« Der Küster sah Graeber milde an. »Als die Kirche gebaut wurde, hat man an so etwas noch nicht gedacht. Es war im finsteren Mittelalter.« Das rotnasige Gesicht war völlig ausdruckslos. Es verriet sich nicht durch das geringste Zwinkern. Wir haben es in der Verstellung weit gebracht, dachte Graeber. Fast jeder ist ein kleiner Meister.

Er ging durch den Garten und die Kreuzgänge hinaus. Die Kirche war stark beschädigt; einer ihrer Türme war eingestürzt, und das Tageslicht schien unbarmherzig hinein. Es schnitt breite, helle Streifen aus dem dämmernden Dunkel. Auch ein Teil der

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Fenster war zerbrochen. Spatzen saßen darin und schilpten. Das Priesterseminar nebenan war ganz zusammengestürzt. Dicht daneben befand sich der Luftschutzkeller. Graeber ging hinein. Es war ein ausgebauter alter Weinkeller, der früher zur Kirche gehört hatte. Die Stützen für die Fässer waren noch da. Die Luft war feucht und kühl und aromatisch. Der Weingeruch der Jahrhunderte schien bis jetzt immer wieder über den Angstgeruch der Bombennächte gesiegt zu haben. Im Hintergrund des Bunkers sah Graeber an der Decke aus Quadersteinen mehrere schwere eiserne Ringe. Er erinnerte sich daran, daß dieser Keller, bevor er Weinkeller wurde, ein Folterraum für Hexen und Ungläubige gewesen war. Man hatte sie an den Händen hochgezogen, die Füße mit Eisen beschwert und sie mit glühenden Zangen gezwickt, bis sie gestanden. Dann hatte man sie hingerichtet, im Namen Gottes und der christlichen Nächstenliebe. Es hat sich wenig geändert, dachte er. Die Folterknechte im KZ haben ausgezeichnete Vorbilder gehabt. Und der Zimmermannssohn aus Nazareth sonderbare Nachfolger.

Er ging die Adlerstraße entlang. Es war sechs Uhr abends. Er hatte den ganzen Tag nach einem Zimmer gesucht und nichts gefunden. Müde beschloß er, es für heute aufzugeben. Das Viertel war sehr verwüstet. Ruinen reihten sich an Ruinen. Verdrossen ging er hindurch. Plötzlich sah er etwas, was er im ersten Moment nicht glauben konnte. Inmitten der Zerstörung stand ein kleines, zweistöckiges Haus. Es war alt und ein wenig schief, aber es war völlig unbeschädigt. Ein Garten zog sich herum, mit ein paar Bäumen und Büschen, die grünten, und

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alles war heil. Es war wie eine Oase in der Wüste der Ruinen. Über einen Gartenzaun grünten Fliederbüsche, und nicht eine Latte des Zaunes war zerbrochen. Zwanzig Schritte weiter begann die Mondwildnis wieder nach beiden Seiten; aber dieser kleine alte Garten und dieses kleine alte Haus waren durch eines der Wunder, die die Zerstörung manchmal begleiten, verschont geblieben. Gastwirtschaft und Restaurant Witte, stand über der Haustür.

Die Pforte zum Garten war offen. Er ging hinein. Es wunderte ihn nicht mehr, daß keine Scheibe der Fenster zerbrochen war. Es mußte fast so sein. Das Wunder wartete immer nahe der Verzweiflung. Ein braunweißer Jagdhund lag neben der Tür und schlief. Ein paar Beete mit Narzissen, Veilchen und Tulpen blühten. Ihm war, als hätte er das alles schon einmal gesehen; er wußte nicht wann; es schien sehr lange her zu sein. Aber vielleicht hatte er es nur geträumt. Er trat durch die Tür. Der Schankraum war leer. Nur noch ein paar Gläser standen in den Regalen; keine Flaschen mehr. Der Bierhahn war blank; aber das Sieb darunter war trocken. Drei Tische mit Stühlen standen an den Wänden. Ein Bild hing über dem mittleren. Es war eine Tiroler Landschaft. Ein Mädchen spielte Zither darauf, und ein Jäger beugte sich über sie. Kein Hitlerbild war da; Graeber hatte es auch nicht erwartet.

Eine ältere Frau kam herein. Sie trug eine verblichene blaue Bluse, deren Ärmel hochgekrempelt waren. Sie sagte nicht:

»Heil Hitler.« Sie sagte: »Guten Abend« — und es war wirklich etwas von Abend darin. Nach einem Tag voll guter Arbeit war es der Wunsch für einen guten Abend. Das hat es einmal gegeben,

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dachte Graeber. Er hatte nur etwas trinken wollen, der Staub der Ruinen hatte ihn durstig gemacht — aber jetzt er schien es ihm plötzlich sehr wichtig, den Abend mit Elisabeth hier zu verbringen. Er fühlte, daß es ein guter Abend werden würde, außerhalb des finsteren Zirkels, der den verwunschenen Garten bis zum Horizont umschloß.

»Kann man bei Ihnen zu Abend essen?« fragte er.

Die Frau zögerte. »Ich habe Marken«, sagte er rasch. »Es wäre schön, hier zu essen. Vielleicht sogar im Garten. Es ist einer meiner letzten Tage, bevor ich fort muß. Für meine Frau und mich. Ich habe Marken für uns beide. Wenn Sie wollen, kann ich auch Konserven zum Tauschen mitbringen.»

»Wir haben nur Linsensuppe. Wir servieren eigentlich kein Essen mehr.»

»Linsensuppe ist herrlich. Ich habe lange keine gehabt.« Die Frau lächelte. Es war ein ruhiges Lächeln, das sich von selbst zu bilden schien. »Wenn es genug für Sie ist, dann kommen Sie nur. Sie können auch im Garten sitzen, wenn Sie wollen. Oder hier, wenn es zu kühl wird.»

»Im Garten. Es ist noch hell genug. Können wir um acht hier sein?»

»Das ist nicht so genau bei Linsensuppe. Kommen Sie nur, wann Sie wollen.« Unter dem Schild am Hause seiner Eltern steckte ein Brief. Er war von seiner Mutter. Man hatte ihn von der Front nachgeschickt. Er riß ihn auf. Der Brief war kurz. Seine Mutter schrieb, daß sein Vater und sie am nächsten Morgen mit einem Transport die Stadt verlassen würden. Sie wüßten noch

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nicht wohin. Er möge sich nicht beunruhigen. Es sei nur eine Sicherheitsmaßnahme.

Er sah auf das Datum. Der Brief war eine Woche vor seinem Urlaub geschrieben worden. Von einem Luftangriff stand nichts darin; aber seine Mutter war vorsichtig. Sie fürchtete die Zensur. Es war unwahrscheinlich, daß das Haus noch am letzten Abend bombardiert worden war. Es mußte vorher passiert sein; man hätte sie sonst nicht für einen Transport bestimmt. Er faltete langsam den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Seine Eltern lebten also. Es war jetzt so sicher, wie man dessen sicher sein konnte. Er sah sich um. Etwas wie eine wellige Glaswand schien vor ihm in den Boden zu sinken, und die Hakenstraße sah plötzlich aus wie alle andern bombardierten Straßen. Der Schrecken und die Qual, die das Haus Nummer achtzehn umwittert hatten, verwehten lautlos. Nichts war mehr da als Schutt und Ruinen wie überall. Er atmete tief. Er spürte keine Freude, nur eine tiefe Befreiung. Eine Last, die ihn immer und überall bedrückt hatte, war auf einmal von seinen Schultern genommen. Er dachte nicht daran, daß er während seines Urlaubs seine Eltern wahrscheinlich nicht mehr sehen würde; die lange Ungewißheit hatte das bereits begraben. Es genügte ihm, daß sie lebten. Sie lebten; damit war etwas abgeschlossen, und er war frei.

Die Straße hatte beim letzten Angriff einige Treffer erhalten. Das Haus, von dem nur noch die Fassade stand, war zusammengebrochen. Die Tür mit der Ruinenzeitung war jetzt ein Stück weiter zwischen den Trümmern aufgestellt worden. Graeberüberlegtegerade,wasausdemverrücktenLuftschutzwart

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geworden sein mochte — da sah er ihn von der anderen Seite herankommen. »Der Soldat«, sagte der Luftschutzwart. »Immer noch da!»

»Ja. Sie auch, wie man sieht.» »Haben Sie Ihren Brief gefunden?» »Ja.»

»Er kam gestern nachmittag. Können wir Sie jetzt auf der Tür streichen? Wir brauchen den Platz dringend. Es sind fünf Voranmeldungen dafür da.»

»Noch nicht«, sagte Graeber. »In ein paar Tagen.»

»Es wird Zeit«, erklärte der Luftschutzwart so scharf und streng, als wäre er ein Schulmeister, der zu einem ungehorsamen Kinde spräche. »Wir haben viel Geduld mit Ihnen gehabt.»

»Sind Sie der Redakteur dieser Zeitung?»

»Ein Luftschutzwart ist alles. Er sorgt für Ordnung. Wir haben eine Witwe, deren drei Kinder seit dem letzten Angriff fehlen. Wir brauchen Ihren Platz zum Annoncieren.»

»DannnehmenSieihn.IchbekommemeinePostanscheinend ohnehin nach der Ruine drüben.« Der Luftschutzwart machte den Zettel Graebers von der Tür los und überreichte ihn ihm. Graeber wollte ihn zerreißen. Der Luftschutzwart hielt seine Hand fest. »Sind Sie verrückt, Soldat? So etwas zerreißt man nicht. Man zerreißt sonst seine Chance. Einmal gerettet, immer gerettet, solange Sie den Zettel behalten. Sie sind wirklich noch ein Anfänger!»

»Ja«, sagte Graeber und faltete den Zettel und steckte ihn ein. »Das möchte ich auch bleiben, solange es geht. Wo wohnen Sie

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jetzt?«.

»Ich mußte umziehen. Ich habe ein komfortables Kellerloch gefunden. Wohne dort als Untermieter einer Mäusefamilie. Sehr unterhaltend.« Graeber sah den Mann an. Sein hageres Gesicht verriet nichts. »Ich beabsichtige einen Verein zu gründen«, erklärte er. »Für Leute, deren Angehörige verschüttet worden sind. Wir müssen zusammenstehen; sonst tut die Stadt nichts. Zum mindesten soll jeder Platz, wo Verschüttete liegen, von Priestern eingesegnet werden, damit es geweihte Erde ist. Verstehen Sie?»

»Ja, ich verstehe.»

»Gut. Es gibt Leute, die das albern finden. Nun, Sie brauchen ja jetzt kein Mitglied mehr bei uns zu werden. Sie haben ja Ihren verdammten Brief.« Das hagere Gesicht fiel plötzlich auseinander. Ein Ausdruck von fassungslosem Schmerz und Wut erschien darin. Der Mann drehte sich abrupt um und stakte die Straße zurück.

Graeber sah ihm nach. Dann ging er weiter. Er beschloß, Elisabeth nichts davon zu sagen, daß seine Eltern noch lebten.

Sie kam allein über den Platz vor der Fabrik. Sie wirkte sehr verloren und klein. Die Dämmerung machte den Platz größer als sonst und die niedrigen Gebäude dahinter kahler und trostloser.

»Ich bekomme Urlaub«, sagte sie atemlos. »Schon wieder.» »Wie lange?»

»Drei Tage. Die drei letzten Tage.« Sie hielt inne. Ihre Augen veränderten sich. Sie standen plötzlich voll Tränen. »Ich habe ihnen erklärt, warum«, sagte sie. »Sie haben mir die drei Tage

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sofort gegeben. Vielleicht muß ich sie später nachholen, aber das ist ja gleich. Nachher ist alles gleich. Es ist sogar besser, wenn ich viel zu tun habe —« Graeber erwiderte nichts. Wie ein dunkler Meteor schlug plötzlich auch vor ihm die Erkenntnis ein, daß sie sich trennen mußten. Er hatte es all die Zeit so gewußt, wie man vieles weiß — ohne es wirklich zu realisieren und zu Ende zu fühlen. Es war immer noch soviel dazwischen gewesen. Jetzt war es auf einmal ganz allein da, groß und voll kühlen Grauens, und verbreitete ein fahles, durchdringendes, skelettierendes Licht — wie Röntgenstrahlen, die die Anmut und den Zauber des Lebens durchdringen und nur den kahlen Rest und die Notwendigkeit bestehen lassen.

Sie sahen sich an. Sie empfanden es beide. Sie standen auf dem leeren Platz und sahen sich an, und jeder spürte, wie der andere litt. Sie glaubten in einem Sturm zu schwanken; aber sie regten sich nicht. Die Verzweiflung, vor der sie immer wieder geflüchtet waren, schien sie endlich eingeholt zu haben, und sie sahen sich jetzt, wie sie tatsächlich sein würden — Graeber sah Elisabeth, allein, in der Fabrik, in einem Luftschutzkeller oder in irgendeinem Zimmer, wartend, ohne viel Hoffnung —, und sie sah ihn, wie er zurückkehrte in die Gefahr, für eine Sache, an die er nicht mehr glaubte. Die Verzweiflung schüttelte sie, und gleichzeitig stürzte wie ein Platzregen eine tödliche Zärtlichkeit über sie, der sie nicht nachgeben konnten, weil sie fühlten, daß sie sie zerrissen hätte, wenn sie sie eingelassen hätten. Sie waren hilflos. Sie konnten nichts tun. Sie mußten warten, bis es nachließ.

Es schien endlos, bis Graeber sprechen konnte. Er sah, daß

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die Tränen in Elisabeths Augen erloschen waren. Sie hatte sich nicht gerührt; es war, als wären sie nach innen geflossen. »Dann können wir noch ein paar volle Tage zusammenbleiben«, sagte er. Sie lächelte mit Mühe. »Ja. Von morgen abend an.»

»Gut. Das ist dann, als hätten wir noch ein paar Wochen, wenn wir es so rechnen, als hättest du nur abends frei.»

»Ja.« Sie gingen weiter. In den leeren Fensterhöhlen einer Hauswand hing ein Rest Abendrot wie ein vergessener Vorhang. »Wohin gehen wir?« fragte Elisabeth. »Und wo schlafen wir?»

»Wir schlafen in den Kreuzgängen der Kirche. Oder im Kreuzgarten, wenn es warm genug ist. Und jetzt gehen wir Linsensuppe essen.« Das Restaurant Witte tauchte zwischen den Ruinen auf. Es schien Graeber einen Augenblick sonderbar, daß es noch immer da war. Es war so unwahrscheinlich wie eine Fata Morgana. Sie gingen durch die Gartenpforte. »Was sagst du dazu?« fragte er. »Es sieht aus wie ein Stück Frieden, das der Krieg übersehen hat.»

»Ja. Und so soll es heute abend auch bleiben.« Die Beete rochen stark nach Erde. Jemand hatte sie inzwischen begossen. Der Jagdhund wedelte um das Haus herum. Er leckte sich die Schnauze und schien gefressen zu haben. Frau Witte kam ihnen entgegen. Sie hatte eine weiße Schürze umgebunden. »Wollen Sie im Garten sitzen?»

»Ja«, sagte Elisabeth. »Und ich möchte mich gerne waschen, wenn das möglich ist.»

»Sicher.« Frau Witte führte Elisabeth ins Haus, eine Stiege hinauf. Graeber ging an der Küche vorüber in den Garten. Ein

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Tisch mit einer weiß und rot gewürfelten Decke und zwei Stühle warenbereitgestellt.GläserundTellerundeineleichtbeschlagene Karaffe mit Wasser standen darauf. Er trank durstig ein Glas. Das Wasser war kalt und schmeckte ihm besser als Wein. Der Garten war größer, als man von draußen vermutete. Er bestand aus einem Stück Rasen, der schon frisch und grün war, aus Holunder und Fliederbüschen und ein paar alten Bäumen mit jungem Laub.

Elisabeth kam zurück. »Wie hast du das nur gefunden?» »Durch Zufall. Wie sonst kann man so etwas finden?« Sie

ging über den Rasen und befühlte die Knospen der Sträucher. »Da sind schon die Fliederblüten. Sie sind noch grün und bitter. Bald werden sie blühen.»

»Ja«, sagte Graeber. »Sie werden blühen. In ein paar Wochen.« Sie kam zu ihm. Sie roch nach Seife und frischem Wasser und Jugend. »Es ist schön hier. Und merkwürdig — ich habe das Gefühl, als wäre ich schon einmal hiergewesen.»

»Das hatte ich auch, als ich es sah.»

»Es ist so, als wäre dieses alles schon einmal dagewesen. Du und ich und dieser Garten hier — und als fehlte nur noch ein winziges Etwas, ein Letztes, und ich könnte mich genau an alles von damals erinnern.« Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Es wird nie kommen. Man bleibt stets kurz davor. Aber vielleicht haben wir wirklich schon einmal all dieses erlebt und erleben es immer wieder.« Frau Witte kam mit einer Suppenterrine. »Ich möchte Ihnen gleich unsere Marken geben«, sagte Graeber. »Wir haben nicht viele. Ein Teil ist verbrannt. Aber diese hier

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