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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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»Es ist nicht mehr sicher hier«, sagte Pohlmann und setzte sich, »Josef muß aber trotzdem heute hierbleiben. Die Wohnung, in der er gestern war, existiert nicht mehr. Heute während des Tages müssen wir dann weitersehen. Es ist nicht mehr sicher hier, Josef. Nur deswegen.»

»Ich weiß«, erwiderte Josef. Er hatte eine tiefere Stimme, als man erwartete.

»Und Sie, Ernst?« fragte Pohlmann. »Ich bin verdächtig, das wissen Sie — und Sie wissen, was es bedeutet, bei jemand, der verdächtig ist, mit jemand, der gesucht wird, nachts um diese Zeit gefunden zu werden.»

»Ja.»

»Es ist anzunehmen, daß diese Nacht nichts passieren wird. DieStadtistzusehrdurcheinander.Abermanweißesnie.Wollen Sie das riskieren?« Graeber schwieg. Pohlmann und Josef sahen sich an. »Ich selbst habe nichts zu riskieren«, sagte er. »Ich muß in ein paar Tagen wieder ins Feld. Mit meiner Frau ist es anders. Sie bleibt hier. Ich habe das nicht überlegt.»

»Ich habe es Ihnen nicht gesagt, um Sie abzuweisen.» »Das weiß ich.»

»Können Sie draußen einigermaßen schlafen?« fragte Josef. »Ja. Wir sind gedeckt gegen Regen.»

»Dann bleiben Sie draußen. Sie haben so mit uns nichts zu tun. Stellen Sie morgen sehr früh Ihre Sachen hier unter. Das wollen Sie doch hauptsächlich, wie? Sie können das aber auch in der Katharinenkirche tun. Der Küster dort erlaubt es. Er ist ehrlich. Die Kirche ist zum Teil zerstört; aber die unterirdischen

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Gewölbe sind noch erhalten. Bringen Sie Ihre Sachen dorthin. Dann sind Sie tagsüber frei, um Unterkunft zu suchen.»

»Ich glaube, er hat recht, Ernst«, sagte Pohlmann. »Josef weiß so etwas besser als wir.« Graeber fühlte plötzlich eine jähe Welle von Zuneigung für den müden alten Mann, der ihn jetzt, wie vor vielen Jahren, wieder beim Vornamen nannte. »Ich glaube es auch«, erwiderte er. »Es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe.»

»Kommen Sie morgen früh herein, wenn Sie irgend etwas brauchen. Klopfen Sie zweimal langsam, zweimal schnell. Klopfen Sie nicht laut, ich höre Sie schon.»

»Gut. Danke.« Graeber ging zurück. Elisabeth schlief noch. Sie wachte nur halb auf, als er sich niederlegte, und schlief gleich weiter.

Sie erwachte um sechs Uhr. Auf der Straße klapperte ein Wagen vorbei. Sie dehnte sich. »Ich habe wunderbar geschlafen«, sagte sie. »Wo sind wir hier?»

»Auf dem Jahnplatz.»

»Gut. Und wo schlafen wir heute abend?»

»Das werden wir tagsüber sehen.« Sie legte sich zurück. Ein Streifen kühler Morgenhelle fiel zwischen Zeltbahn und Mantel hindurch. Vögel zwitscherten. Sie schob den Mantel beiseite. Draußen stand gelb und leuchtend der frühe Himmel. »Ein Zigeunerleben« sagte sie. »Wenn man es so betrachtet. Voll von Abenteuern.»

»Ja«, sagte Graeber. »Laß es uns so betrachten. Ich habe Pohlmann nachts noch getroffen. Wir können ihn aufwecken,

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wenn wir etwas brauchen.»

»Wir brauchen nichts. Haben wir noch Kaffee? Kochen können wir doch hier, oder nicht?»

»Es ist sicher verboten, wie alles Vernünftige. Aber was macht das? Wir sind Zigeuner.« Elisabeth begann ihr Haar zu kämmen. »Hinter dem Hause ist klares Regenwasser in einer Schüssel«, sagte Graeber. »Gerade genug, um sich etwas zu waschen.« Elisabeth zog ihre Jacke an. »Ich werde hinübergehen. Es ist wie auf dem Lande. Wasser von der Pumpe. Romantisch nannte man das früher, wie?« Graeber lachte. »Ich jetzt auch noch — verglichen mit dem Dreck in Rußland. Es kommt immer auf den Vergleich an.« Er packte die Betten zusammen. Dann zündete er den Spirituskocher an und setzte das Kochgeschirr mit Wasser darauf. Plötzlich fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Elisabeths Lebensmittelmarken in ihrem Zimmer zu suchen. Sie kam gerade vom Waschen zurück. Ihr Gesicht war klar und jung. »Hast du deine Marken bei dir?« fragte er.

»Nein. Sie waren im Schreibtisch am Fenster. In dem kleinen Fach.»

»Verdammt, ich habe vergessen, sie mitzunehmen. Warum habe ich nur nicht daran gedacht? Ich hatte Zeit genug dazu.»

»Du hast an allerlei Dinge gedacht, die wichtiger sind. Zum Beispiel an mein goldenes Kleid. Wir werden einfach heute neue Marken beantragen. Es kommt oft vor, daß sie verbrennen.»

»So etwas kann eine Ewigkeit dauern. Ein deutscher Beamter wird selbst durch den Weltuntergang nicht in seiner Pedanterie erschüttert.« Elisabeth lachte. »Ich werde in der Fabrik eine

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Stunde Urlaub nehmen, um sie zu holen. Der Hauswart kann mir einen Ausweis geben, daß ich ausgebombt worden bin.»

»Du willst heute in die Fabrik?« fragte Graeber.

»Ich muß. Ausgebombt werden ist eine alltägliche Angelegenheit.»

»Ich könnte diese verfluchte Fabrik anzünden.»

»Ich auch. Aber dann würde man uns anderswohin schicken, wo es noch schlimmer ist. Ich möchte keine Munition machen.» »Warum bleibst du nicht einfach weg? Wie soll man wissen,

was gestern mit dir passiert ist?»

»Das müßte ich beweisen. Wir haben Fabrikärzte und Fabrikpolizei. Wenn die herausfinden, daß jemand schwindelt, gibt es Strafen: Mehrarbeit, Urlaubsentziehung — und wenn das nicht hilft, einen Schulungskurs in Volkserziehung im Konzentrationslager. Wer von da wiederkommt, bleibt nie mehr weg.« Elisabeth nahm das heiße Wasser und goß es über das Kaffee-Ersatzpulver im Kochgeschirrdeckel. »Vergiß nicht, daß ich gerade drei Tage Urlaub gehabt habe«, sagte sie. »Ich kann nicht zu viele Ansprüche machen.« Er wußte, daß sie glaubte, es ihres Vaters wegen nicht zu können. Sie hoffte, ihm so helfen zu können. Es war die Schlinge, die um den Hals eines jeden lag. »Diese Bande!« sagte er. »Was haben sie nur aus uns allen gemacht!»

»Hier ist dein Kaffee. Und ärgere dich nicht. Wir haben keine Zeit mehr dazu.»

»Das ist es ja gerade, Elisabeth.« Sie nickte. »Ich weiß es. Wir haben so wenig Zeit und sind trotzdem so wenig beieinander.

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Dein Urlaub geht dahin, und das meiste davon ist verschwendet mit Warten. Ich sollte mehr Mut haben und wegbleiben von der Fabrik, solange du hier bist.»

»Du hast Mut genug. Und es ist immer noch besser, zu warten, als nichts zu haben, auf das man warten kann.« Sie küßte ihn. »Du hast rasch gelernt, die richtigen Worte zu finden«, sagte sie. »Jetzt muß ich fort. Wo sollen wir uns abends treffen?»

»Ja wo? Da ist jetzt nichts mehr. Wir müssen wieder von vorn anfangen. Ich werde dich von der Fabrik abholen.»

»Und wenn etwas dazwischenkommt? Ein Angriff oder eine Sperre?« Graeber dachte nach. »Ich packe nachher zusammen und gehe zur Katharinenkirche. Laß uns das als zweiten Treffpunkt nehmen.»

»Ist sie nachts offen?»

»Warum nachts? Du kommst doch nicht nachts zurück.» »Man weiß das nicht. Wir haben einmal sechs Stunden im

Kellersitzenmüssen.Ambestenwärees,wennwirjemandhätten, bei dem wir im schlimmsten Falle Nachrichten hinterlassen können.

Treffpunkte allein sind nicht mehr genug.»

»Du meinst, wenn einem von uns etwas passieren sollte?» »Ja.« Graeber nickte. Er hatte gesehen, wie leicht man sich

verlieren konnte. »Wir können für heute Pohlmann nehmen. Oder nein, das ist nicht sicher.« Er dachte nach. »Binding«, sagte er plötzlich erlöst. »Der ist sicher. Ich habe dir sein Haus gezeigt. Er weiß allerdings noch nicht, daß wir verheiratet sind. Aber das macht nichts. Ich werde hingehen und ihm Bescheid sagen.»

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»Gehst du hin, um ihn wieder auszuräubern?« Graeber lachte. »Das wollte ich eigentlich nicht mehr. Aber wir brauchen etwas zu essen. So wird man wieder korrupt.»

»Werden wir heute nacht hier schlafen?»

»Ich hoffe nicht. Ich habe den ganzen Tag Zeit, etwas zu suchen.« Ihr Gesicht beschattete sich einen Augenblick. »Das hast du. Ich muß jetzt fort.»

»Ichpackeraschzusammen,verstauedenKrambeiPohlmann und bringe dich zur Fabrik.»

»Es ist keine Zeit mehr dafür. Ich muß laufen. Also bis heute abend. Fabrik, Katharinenkirche oder Binding. Was für ein interessantes Leben!»

»Zum Teufel mit dem interessanten Leben«, sagte Graeber. Er sah ihr nach. Sie ging über den Platz. Der Morgen war klar, und der Himmel war jetzt von einem reinen tiefen Blau. Feuchtigkeit glitzerte wie ein Silbernetz auf den Trümmern. Elisabeth drehte sich um und winkte. Dann ging sie rasch weiter. Graeber liebte es, wie sie ging. Sie setzte die Füße fast voreinander, als ginge sie in einer Wagenspur. Er hatte in Afrika eingeborene Frauen so gehen sehen. Sie winkte noch einmal und verschwand dann zwischen den Häusern am Ende des Platzes. Es ist fast wie draußen, dachte er. Man weiß nie, ob man sich wiedersehen wird, wenn man sich trennt. Zum Teufel mit dem interessanten Leben!

Um acht Uhr kam Pohlmann heraus. »Ich wollte nachsehen, ob Sie zu essen haben. Ein Stück Brot kann ich erübrigen —»

»Danke. Wir hatten genug. Kann ich das Bett und die Koffer

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hierlassen, während ich zur Katharinenkirche gehe?» »Natürlich.« Graeber trug die Sachen hinein. Josef war

nicht zu sehen. »Es ist möglich, daß ich nicht da bin, wenn Sie wiederkommen«, sagte Pohlmann. »Klopfen Sie dann zweimal lang und zweimal kurz. Josef wird Sie hören.« Graeber öffnete einen Koffer. »Es scheint ein Zigeunerleben zu werden«, sagte er. »Ich habe das nicht erwartet.« Pohlmann lächelte müde. »Josef tut das seit drei Jahren. Er hat ein paar Monate lang nachts nur in elektrischen Bahnen gelebt. Fuhr immerfort herum. Während dieser Zeit konnte er nur im Sitzen und immer nur für Viertelstunden schlafen. Es war damals, als wir noch keine Luftangriffe hatten. Jetzt ist das nicht mehr möglich.« Graeber nahm eine Büchse mit Fleisch aus dem Koffer und gab sie Pohlmann. »Ich habe dieses übrig. Geben Sie es Josef.»

»Fleisch? Brauchen Sie das nicht selbst?»

»Nein. Geben Sie es ihm. Leute wie er müssen durchkommen. Was soll sonst werden, wenn alles einmal vorbei ist? Was wird überhaupt werden? Ist genug übriggeblieben, um neu anfangen zu können?« Der alte Mann schwieg eine Zeitlang. Dann ging er zu dem Globus hinüber, der in der Ecke stand, und drehte ihn herum. »Sehen Sie das hier?« fragte er. »Dieses kleine Stück der Welt ist Deutschland. Man kann es fast schon mit dem Daumen zudecken. Es ist ein sehr kleiner Teil der Welt.»

»Das mag sein. Aber von diesem kleinen Teil aus haben wir ein sehr großes Stück der Welt erobert.»

»Ein Stück, ja. Und erobert — aber nicht überzeugt.» »Noch nicht. Aber wie wäre es geworden, wenn wir es hätten

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halten können? Zehn Jahre. Zwanzig. Fünfzig. Siege und Erfolge sind furchtbar wirksame Überredner.»

»Wir haben nicht gesiegt.» »Das ist kein Beweis.»

»Es ist ein Beweis«, sagte Pohlmann. »Ein sehr tiefer.« Seine HandmitdendickenAderndrehtedenGlobusweiter.»DieWelt«, sagte er. »Die Welt steht nicht still. Wenn man eine Zeitlang an seinem Lande verzweifelt, muß man an die Welt glauben. Eine Sonnenfinsternis ist möglich, aber nicht ein dauerndes Stück Nacht. Nicht auf diesem Planeten. Man soll es sich nicht so leicht machen und gleich verzweifeln.« Er schob den Globus zurück. »Sie fragen, ob genug übriggeblieben sei, um neu anzufangen. Die Kirche begann mit ein paar Fischern, ein paar Gläubigen in den Katakomben und den Überlebenden der Arenen Roms.»

»Ja. Und die Nazis mit ein paar erwerbslosen Fanatikern in einer Bierkneipe in München.« Pohlmann lächelte. »Sie haben recht. Aber es hat noch nie eine Tyrannei gegeben, die gedauert hat. Die Menschheit ist nicht in glattem Verlauf vorwärtsgekommen. Immer nur in Schüben, Rucken, Rückfällen und Krämpfen. Wir waren zu hochmütig; wir glaubten, unsere blutige Vergangenheit bereits überwunden zu haben. Jetzt wissen wir, daß wir uns noch nicht einmal umsehen dürfen, ohne nicht wieder von ihr erreicht zu werden.« Er nahm seinen Hut. »Ich muß fort.»

»Hier ist Ihr Buch über die Schweiz«, sagte Graeber. »Es ist etwas verregnet. Ich hatte es verloren, aber ich habe es wiedergefunden und gerettet.»

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»Sie hätten es nicht zu retten brauchen. Träume braucht man nicht zu retten.»

»Doch«, sagte Graeber. »Was sonst?» »Glauben. Träume bilden sich neu.»

»Hoffentlich. Sonst könnte man sich ebensogut aufhängen.» »Wie jung Sie noch sind«, sagte Pohlmann. »Aber was sage ich? Sie sind ja wirklich noch sehr jung.« Er zog seinen Mantel an. »Sonderbar — Jugend habe ich mir immer ganz anders

vorgestellt — « »Ich auch«, sagte Graeber.

Josef war richtig informiert gewesen. Der Küster der Katharinenkirche bewahrte die Sachen auf. Graeber ließ seinen Tornister da. Dann ging er zum Wohnungsamt. Es war verlegt worden und befand sich jetzt im Naturkundezimmer einer Schule. Ein Gestell mit Landkarten und ein Glasschrank mit Präparaten in Spiritus standen noch von früher da. Die Beamtin hatte eine Anzahl der Gläser als Aktenbeschwerer benutzt. Es waren Schlangen, Eidechsen und Frösche. Außerdem war noch ein ausgestopftes Eichhörnchen mit Glasaugen und einer Nuß zwischen den Pfoten da. Die Beamtin war eine freundliche grauhaarige Person. »Ich werde Ihren Namen für eine Notwohnung notieren«, sagte sie. »Haben Sie eine Adresse?»

»Nein.»

»Dann müssen Sie gelegentlich wieder vorbeikommen und nachfragen.»

»Hat es Zweck?»

»Nicht den geringsten. Es sind sechstausend Anmeldungen vor Ihnen. Sehen Sie lieber zu, daß Sie selbst etwas finden.«

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Er ging zurück zum Jahnplatz und klopfte an Pohlmanns Tür. Niemand antwortete. Er wartete eine Weile. Dann ging er zur Marienstraße, um festzustellen, was dort übriggeblieben war. Das Haus Elisabeths war bis zum Stock des Hauswarts heruntergebrannt. Die Feuerwehr war dagewesen. Wasser triefte noch überall. Von Elisabeths Wohnung war nichts mehr da. Auch der Sessel war fort, der draußen gestanden hatte. Ein paar Handschuhe lag im Rinnstein, das war alles. Graeber sah den Hauswart hinter den Gardinen seiner Wohnung. Er erinnerte sich, daß er ihm Zigarren versprochen hatte. Es schien lange her und nicht mehr nötig zu sein; aber das wußte man nie. Er beschloß, zu Alfons zu gehen und welche zu holen. Er brauchte ohnehin Lebensmittel für den Abend.

Es war nichts anderes getroffen worden als nur das eine Haus. Die Gärten lagen im Morgenlicht, die Birken wehten im Winde, das Gold der Narzissen leuchtete, und die ersten Bäume blühten, als wären sie von weißen und rosa Schmetterlingen überflogen

— nur Bindings Haus war ein wüster Haufen Schutt, der über einem Krater im Garten hing, in dem niedriges Wasser den Himmel widerspiegelte. Graeber stand einen Augenblick und starrte darauf, als glaubte er es nicht. Er wußte nicht warum, aber er hatte immer angenommen, daß Alfons nichts passieren könne. Langsam trat er näher. Das Vogelbad war abgebrochen und zersplittert. Die Haustür hing in den Fliederbüschen. Hirschgeweihe lagen auf dem Rasen, als wären die Tiere darunter beerdigt. Ein Teppich hing wie die leuchtende Fahne eines barbarischen Eroberers hoch in den Bäumen. Aufrecht und steil stand eine Flasche Napoleon in einem Blumenbeet,

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