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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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Elisabeth an.

Nach einer halben Stunde hörte der Regen auf. »Ich weiß nicht mehr, wo wir sind«, sagte Graeber. »In welche Richtung müssen wir gehen?»

»Nach rechts.« Sie überquerten die Straße und bogen in eine dämmerige Allee ein. Vor ihnen war eine lange Reihe von Leuten im Halbdunkel damit beschäftigt, Röhren zu legen. Sie trugen gestreifte Anzüge. Elisabeth richtete sich plötzlich auf und bog von der Straße ab, dahin, wo die Arbeiter waren. Langsam und dicht ging sie an ihnen vorüber und blickte sie an, als suchte sie jemand. Graeber sah jetzt, daß die Leute Nummern auf den Anzügen trugen; es mußten Gefangene aus dem Konzentrationslager sein. Sie arbeiteten schweigend und eilig, ohne aufzublicken. Ihre Köpfe glichen Totenschädeln, und die Anzüge schlotterten um die dünnen Körper. Zwei lagen zusammengebrochen vor einer Selterwasserbude, die mit Brettern verrammelt war. »Heda!« schrie ein SS-Mann. »Weg da! Es ist verboten, da zu gehen!« Elisabeth tat, als hörte sie ihn nicht. Sie ging nur rascher und spähte den Gefangenen in die toten Gesichter. »Zurückkommen! Sie da! Die Dame! Sofort! Verdammt,könnenSienichthören?«DerSS-Mannkamfluchend heran. »Was gibt es?« fragte Graeber. »Was es gibt? Habt ihr Dreck in den Ohren? Oder was ist los?« Graeber sah, daß noch ein zweiter SS-Mann herankam. Es war ein Oberscharführer. Er traute sich nicht, Elisabeth zurückzurufen; er wußte, daß sie nicht kommen würde. »Wir suchen etwas«, sagte er zu dem SSMann. »Was? Raus mit der Sprache!»

»Wir haben hier etwas verloren, eine Brosche. Es war

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ein Segelschiff mit Brillanten. Wir sind gestern spät hier durchgegangen und müssen es verloren haben. Haben Sie vielleicht etwas davon gesehen?»

»Was?« Graeber wiederholte seine Lüge. Er sah, daß Elisabeth die Hälfte der Reihe hinter sich hatte. »Hier ist nichts gefunden worden«, erklärte der Oberscharführer.

»Er quatscht uns was vor«, sagte der SS-Mann. »Haben Sie Papiere?« Graeber sah ihn eine Weile schweigend an. Er hätte ihn gerne niedergeschlagen. Der SS-Mann war nicht älter als zwanzig Jahre. Steinbrenner, dachte er. Heini. Derselbe Typ. »Ich habe nicht nur Papiere, sondern ich habe sogar sehr gute Papiere«, sagte er dann. »Der Obersturmbannführer Hildebrandt ist außerdem ein naher Freund von mir, wenn Sie das interessieren sollte.« Der SS-Mann lachte höhnisch. »Sonst noch was? Der Führer wohl auch, wie?»

»Der Führer nicht.« Elisabeth war fast am Ende der Reihe angekommen. Graeber holte langsam seine Heiratsurkunde aus der Tasche. »Kommen Sie mal mit mir unter die Laterne. Können Sie das hier lesen? Die Unterschrift meines Trauzeugen? Und das Datum? Heute, wie Sie sehen. Sonst noch Fragen?« Der SSMann starrte auf das Papier. Der Oberscharführer sah ihm über die Schulter. »Das ist Hildebrandts Unterschrift«, bestätigte er. »Ich kenne sie. Aber Sie dürfen trotzdem nicht hier gehen. Es ist verboten.Wirkönnennichtsdaranmachen.TutmirleidmitIhrer Brosche.« Elisabeth war durch. »Mir auch«, erwiderte Graeber. »Natürlich werden wir nicht weitersuchen, wenn es verboten ist. Befehl ist Befehl.« Er ging weiter, um Elisabeth zu erreichen. Aber der Oberscharführer blieb neben ihm. »Vielleicht finden

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wir die Brosche noch. Wohin sollen wir sie dann schicken?» »Zu Hildebrandt, das ist am einfachsten.»

»Gut«, sagte der Oberscharführer mit Respekt. »Haben Sie etwas gefunden?« fragte er dann Elisabeth.

Sie starrte ihn an, als wäre sie gerade erwacht. »Ich habe dem Oberscharführer von der Brosche erzählt, die wir hier verloren haben«, sagte Graeber rasch. »Sollte man sie finden, wird er sie zu Hildebrandt schicken.»

»Danke«, erwiderte Elisabeth erstaunt. DerOberscharführersahihrinsGesichtundnickte.»Siekönnen

sich darauf verlassen! Wir sind Kavaliere bei der SS.« Elisabeth warf einen Blick auf die Gefangenen. Der Oberscharführer bemerkte es. »Sollte eines von diesen Schweinen sie eingesteckt haben, so werden wir sie auch schon finden«, erklärte er galant. »Wir werden sie revidieren, bis sie umfallen.« Elisabeth zuckte zusammen. »Es ist nicht sicher, daß ich sie hier verloren habe. Es kann auch weiter oben im Walde gewesen sein. Ich glaube sogar eher, es war da.« Der Oberscharführer grinste. Sie errötete. »Es wird wohl im Walde gewesen sein«, wiederholte sie.

Der Oberscharführer grinste stärker. »Da sind wir natürlich nicht zuständig«, erklärte er.

Graeber stand dicht neben dem abgezehrten Schädel eines der gebückten Gefangenen. Er steckte die Hand in die Tasche, schob ein Paket Zigaretten heraus und ließ es neben den Gefangenen fallen, während er sich umdrehte. »Besten Dank«, sagte er zu dem Oberscharführer. »Wir werden morgen im Wald weitersuchen. Es kann auch dagewesen sein.»

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»Nichts zu danken. Heil Hitler! Und herzliche Gratulation zur Hochzeit.»

»Danke.« Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis sie nichts mehr von den Gefangenen sehen konnten. Ein Zug Wolken zog perlmuttern und rosafarben wie ein Schwarm Flamingos über den Himmel, der sich aufgeklärt hatte.

»Ich hätte nicht hinübergehen sollen«, sagte Elisabeth. »Ich weiß es.»

»Das macht nichts. Der Mensch ist nun mal so. Kaum ist er aus einer Gefahr heraus, riskiert er schon die nächste.« Sie nickte. »Du hast uns mit der Brosche gerettet. Und mit Hildebrandt. Du bist wirklich ein guter Lügner.»

»Das«, sagte Graeber, »ist das einzige, was wir in den letzten zehn Jahren zur Vollkommenheit gelernt haben. Und nun laß uns nach Hause gehen. Ich habe jetzt das absolute, verbriefte Recht, in deine Wohnung einzuziehen. Ich habe mein Heim in der Kaserne verloren und bin heute nachmittag bei Alfons ausgezogen; jetzt will ich endlich nach Hause. Ich will in großem Luxus im Bett liegenbleiben, während du morgen früh zur Arbeit rennst, um das Brot für die Familie zu verdienen.»

»Ich brauche morgen nicht zur Fabrik. Ich habe zwei Tage Urlaub.»

»Das sagst du erst jetzt?»

»Ich wollte es dir morgen früh sagen.« Graeber schüttelte den Kopf. »Nur keine Überraschungen! Wir haben keine Zeit dazu. Wir brauchen jede Minute, um uns zu freuen. Und wir werden gleich damit anfangen. Haben wir genug zum Frühstück? Oder

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soll ich noch zu Alfons gehen?» »Wir haben genug.»

»Gut. Wir werden mit Lärm frühstücken. Wenn du willst, sogar mit dem Hohenfriedberger Marsch. Und wenn Frau Lieser dann voll moralischer Wut herantobt, werden wir ihr unsere Heiratsurkunde vor die enttäuschte Denunziantenfresse halten. Die Augen, die sie machen wird, wenn sie den Namen unseres SSTrauzeugen sieht!« Elisabeth lächelte. »Vielleicht wird sie gar nicht so viel Krach machen. Vorgestern, als sie mir ein Pfund Zucker gab, das du dagelassen hattest, sagte sie plötzlich, du seist ein anständiger Mensch. Weiß der Himmel, woher dieser Umschlag auf einmal kam! Weißt du es?»

»Keine Ahnung. Korruption wahrscheinlich. Das ist ja das zweite, was wir in den letzten zehn Jahren zur Vollkommenheit gelernt haben.«

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20Das Bombardement kam mittags. Es war ein trüber, lauer Tag, der voll Wachsen und Feuchtigkeit war. Die Wolken hingen tief, und die Flammen der

Explosion wurden gegen sie geworfen, als schleuderte die Erde sie zurück gegen den unsichtbaren Gegner, um ihn mit seinen eigenen Waffen herunterzureißen in den Strudel von Feuer und Zerstörung.

EswardieStundederMittagspauseunddesstärkstenVerkehrs. Graeber war von einem Luftschutzwart in den nächsten Keller gewiesen worden. Er hatte geglaubt, es würde nur ein Alarm werden, aber als er die ersten Explosionen hörte, begann er sich durch die Menschenmassen nach vorn zu drängen, bis er nahe am Ausgang war. Im Augenblick, als die Tür noch einmal geöffnet wurde, um Leute einzulassen, sprang er hinaus. »Zurück!« schrie der Luftschutzwart draußen. »Niemand darf auf der Straße sein! Nur Luftschutzwarte!»

»Ich bin Luftschutzwart!« Er lief in der Richtung zur Fabrik. Er wußte nicht, ob er Elisabeth erreichen konnte; aber er wußte, daß Fabriken die Hauptziele der Angriffe waren, und er wollte wenigstens versuchen, sie herauszuholen.

Er kam um die Ecke. Langsam hob sich vor ihm am Ende der Straße ein Haus. Es zerbrach in der Luft in Stücke, die sich voneinander lösten und auf dem Rasen, ohne eigenen Lärm, lautlos und gemächlich niederfielen. Er lag im Rinnstein, die Arme über die Ohren gepreßt. Der Luftdruck einer zweiten Explosion ergriff ihn wie eine Riesenhand und warf ihn einige Meter zurück. Steine stürzten wie Regen um ihn herunter. Auch sie fielen lautlos in all dem Toben. Er erhob sich, taumelte,

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schüttelte heftig den Kopf, riß sich an den Ohren und schlug sich gegen die Stirn, um klar zu werden. Von einem Augenblick zum andern war die Straße vor ihm ein Sturm von Flammen. Er konnte nicht durch und kehrte um.

Menschen stürzten ihm entgegen mit offenen Mündern, Entsetzen in den Augen. Sie schrien, aber er konnte sie nicht hören. Wie aufgestöberte Taubstumme liefen sie an ihm vorüber. Ihnen folgte ein Mann mit einem Holzbein, der eine große Kuckucksuhr trug, deren Gewichte nachschleiften. Ein Schäferhund jagte geduckt hinter ihm her. In einer Hausecke stand ein fünfjähriges Mädchen. Es hielt einen Säugling fest an sich gepreßt. Graeber blieb stehen. »Lauf zum nächsten Keller!« schrie er. »Wo sind deine Eltern? Warum lassen sie dich hier stehen?« Das Mädchen sah nicht auf. Es hielt den Kopf gesenkt und drückte sich gegen die Wand. Graeber sah plötzlich einen Luftschutzwart, der lautlos auf ihn einschrie. Graeber schrie zurück und hörte sich nicht. Der Luftschutzwart schrie lautlos weiter und machte Zeichen. Graeber winkte ab und zeigte auf die beiden Kinder. Es war eine gespenstische Pantomime. Der Luftschutzwart versuchte ihn mit einer Hand zurückzuhalten; mit der andern griff er nach den Kindern. Graeber riß sich los. In dem Tosen war ihm einen Augenblick, als hätte er kein Gewicht und könne ungeheure Sprünge machen, und gleich darauf, als wäre er aus weichem Blei und riesige Hämmer schlügen ihn platt.

Ein Schrank mit offenen Türen segelte wie ein plumper vorweltlicher Vogel über ihn hinweg. Ein mächtiger Luftstrom erfaßte ihn und wirbelte ihn herum, Flammen schossen aus

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dem Boden, ein grelles Gelb verlöschte den Himmel, verbrannte zu intensivem Weiß und stürzte wie ein Wolkenbruch wieder herunter. Graeber atmete Feuer, seine Lungen schienen verbrannt; er brach zusammen, drückte den Kopf in die Arme, hielt den Atem an, bis der Kopf zu platzen drohte, und sah auf. Durch Tränen und Brennen schwamm in seine Augen langsam ein Bild, verzerrte sich und festigte sich: eine zerrissene, gefleckte Mauerwand, zurückgedrückt über eine Treppe, und auf der Treppe, aufgespießt von den zersplitterten Stufen, der Körper des fünfjährigen Mädchens, den kurzen schottischen Rock hochgerissen, die Beine gespreizt und entblößt, die Arme ausgestreckt wie gekreuzigt, die Brust von einem Stück Eisengitter durchbohrt, dessen Knauf weit aus dem Rücken ragte — und seitlich daneben, als hätte er viele Gelenke mehr als im Leben, der Luftschutzwart, ohne Kopf, erschlafft und nur noch wenig Blut sprudelnd, zusammengebogen, die Beine über den Schultern, wie ein toter Schlangenmensch. Der Säugling war nicht zu sehen. Er mußte irgendwo anders hingeschleudert worden sein in dem Sturm, der jetzt zurückkam, heiß und flammend, im Rücksog das Feuer vor sich herjagend. Graeber hörte jemand neben sich schreien: »Schweine! Schweine! Verfluchte Schweine!« und starrte zum Himmel und blickte sich um und merkte, daß er selber es war, der schrie.

Er sprang auf und lief weiter. Er wußte nicht, wie er zu dem Platz gekommen war, an dem die Fabrik lag. Sie schien unversehrt; nur an der rechten Seite war ein frischer Krater. Die niedrigen grauen Gebäude waren nirgendwo getroffen. Der Luftschutzwart der Fabrik hielt ihn auf.

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»Meine Frau ist hier!« schrie Graeber. »Lassen Sie mich rein!» »Verboten! Der nächste Keller ist auf der anderen Seite.

Drüben, wo der Platz aufhört.»

»Verflucht, was ist nicht alles verboten in diesem Land! Gehen Sie weg oder...« Der Luftschutzwart zeigte auf den hinteren Hof. Ein flaches kleines Blockhaus aus Eisenbeton stand da. »Maschinengewehre«, sagte er. »Und eine Wache! Scheißmilitär, wie du! Geh rein, wenn du willst, du Kaffer!« Graeber brauchte keine weitere Erklärung; das MG beherrschte den Hof. »Eine Wache!« sagte er wütend. »Wozu? Nächstens bewacht ihr noch eure eigene Scheiße. Habt ihr Verbrecher da drin? Oder was ist an euren verdammten Militärmänteln zu bewachen?»

»Mehr als du denkst!« erwiderte der andere verächtlich. »Wir machen hier nicht nur Militärmäntel. Und wir haben hier nicht nur Weiber. Im Munitionswerk arbeiten ein paar hundert Gefangene vom Konzentrationslager. Hast du jetzt verstanden, du Frontkalb?»

»Ja. Wie sind die Keller hier?»

»Was gehen mich die Keller an! Ich muß draußen bleiben. Und was passiert mit meiner Frau in der Stadt?»

»Sind die Keller sicher?»

»Natürlich. Die Leute werden doch in der Fabrik gebraucht. Und jetzt verschwinde! Niemand darf auf der Straße sein! Die drüben haben schon was gemerkt. Sind scharf auf Sabotage!« Die schweren Explosionen hatten nachgelassen. Das Flakfeuer raste weiter. Graeber lief seitlich über den Platz zurück. Er lief nicht zumnächstenKeller;erducktesichindenfrischenBombenkrater

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am Ende des Platzes. Der Gestank darin erstickte ihn fast. Er kroch zum Rande empor und blieb dort liegen und starrte auf die Fabrik. Es ist ein anderer Krieg hier, dachte er. An der Front mußte jeder nur auf sich selbst aufpassen, und wenn jemand einen Bruder in derselben Kompanie hatte, so war das schon viel; aber hier hatte jeder eine Familie, und es war nicht er allein, auf den man schoß; auf jeden wurde für jeden mitgeschossen. Es war ein doppelter und dreifacher und zehnfacher Krieg. Er dachte an die Leiche des fünfjährigen Mädchens, und dann an die andern, zahllosen, die er gesehen hatte, und er dachte an seine Eltern und an Elisabeth, und er spürte wie einen Krampf den Haß gegen die, die alles angerichtet hatten, und es war ein Haß, der nicht an den Grenzen seines Landes stillstand, und der nichts mit Abwägen und Gerechtigkeit zu tun hatte. Es begann zu regnen. Die Tropfen fielen wie ein silberner Schwarm von Tränen durch die stinkende vergewaltigte Luft. Sie sprühten auf und färbten die Erde dunkel. Dann kamen die nächsten Bomberstaffeln.

Es war, als zerrisse ihm jemand die Brust. Das Tosen wurde zu metallischem Rasen, dann hob sich ein Teil der Fabrik in die Luft, schwarz vor dem fächerförmigen glühenden Licht, und zerbarst, als spielte unten in der Erde ein Riese mit Spielzeugen und würfe sie hoch.

Graeber starrte auf das Fenster, das weiß und gelb und grün aufsprang. Dann lief er zurück zum Tor der Fabrik. »Was willst du denn schon wieder?« schrie der Luftschutzwart. »Siehst du nicht, daß es bei uns eingehauen hat?»

»Ja! Wo! In welchem Teil? In dem für Mäntel?»

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