
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdfdas Badesalz von Alfons.
»So wie Brillantine riecht. Wie sonst? Es ist französische.« Graeber nahm den Topf und roch. Die Brillantine roch nach altem ranzigem Fett. Die Zeit der Siege war eben doch schon lange vorbei. Er sah auf sein Haar; da, wo es länger war, stand es in Büscheln hoch. »Gut, Brillantine«, sagte er. »Aber nur sehr wenig.« Er zahlte und ging zu dem Schneider zurück. »Sie sind zu früh«, brummte das Känguruh.
Graeber widersprach nicht. Er setzte sich hin und sah zu, wie der Schneider bügelte. Die warme Luft machte ihn schläfrig. Der Krieg war plötzlich weit weg. Fliegen summten träge, das Eisen zischte, und der kleine Raum war voll von einer ungewohnten und vergessenen Sicherheit. »Das ist alles, was ich tun kann.« Der Schneider hielt Graeber die Hose hin. Er betrachtete sie. Der Fleck war fast weg. »Großartig«, sagte er. Die Hose roch nach Benzin; aber er sagte nichts darüber. Rasch zog er sich um. »Wer hat Ihnen die Haare geschnitten?« fragte der Schneider. »Eine Frau, deren Mann Soldat ist.»
»Es sieht aus, als hätten Sie es selbst gemacht. Halten Sie mal still.« Das Känguruh klippte ihm ein paar Haarbüschel weg. »So, jetzt geht es.»
»Washabeichzubezahlen?«DerSchneiderwinkteab.»Tausend Mark oder gar nichts. Also gar nichts. Hochzeitsgeschenk.»
»Danke. Wissen Sie irgendwo einen Blumenladen?»
»Es gibt einen in der Spichernstraße.« Der Laden war offen. Zwei Frauen standen darin und handelten mit der Verkäuferin um einen Kranz. »Es sind echte Tannenzapfen daran«, sagte die
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Verkäuferin. »Das ist immer teurer.« Eine der beiden Frauen blickte sie entrüstet an. Ihre weichen, faltigen Backen zitterten. »Das ist Wucher«, sagte sie. »Wucher! Komm, Minna! Wir finden anderswo billigere Kränze.»
»Sie brauchen sie nicht zu nehmen«, erklärte die Verkäuferin spitz. »Ich werde meine Ware leicht genug los.»
»Bei den Preisen?»
»O ja, bei den Preisen. Ich habe nie genug Vorrat und bin jeden Abend ausverkauft, meine Dame.»
»Dann sind Sie ein Kriegsgewinnler.« Die beiden Frauen stampften hinaus. Die Verkäuferin zog den Atem scharf ein, als ob sie ihnen etwas nachrufen wollte; dann wandte sie sich zu Graeber. Sie hatte plötzlich zwei rote Flecke auf dem Gesicht. »Und Sie? Kränze oder Sargschmuck? Sie sehen, das Lager ist nicht groß, aber wir haben sehr schöne Tannenarrangements.»
»Ich will nichts für eine Beerdigung.»
»Was denn?« fragte die Verkäuferin erstaunt. »Ich möchte Blumen kaufen.»
»Blumen? Ich habe Lilien —»
»Keine Lilien. Etwas für eine Hochzeit.»
»Lilien sind durchaus passend für eine Hochzeit, mein Herr! Sie sind das Symbol von Unschuld und Jungfräulichkeit.»
»Das ist richtig. Aber haben Sie keine Rosen?»
»Rosen? Um diese Zeit? Woher? In den Treibhäusern wird heute Gemüse angebaut. Es ist schwer, überhaupt etwas zu bekommen.« Graeber ging um den Stand herum. Schließlich fand er hinter einem Kranz in Hakenkreuzform ein Bund
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Narzissen. »Geben Sie mir die.« Die Verkäuferin nahm das Bund heraus und ließ das Wasser abtropfen. »Ich muß Ihnen die Blumen leider in eine Zeitung einwickeln. Ich habe kein anderes Papier mehr.»
»Das macht nichts.« Graeber bezahlte die Narzissen und ging. Er fühlte sich sofort unbehaglich mit den Blumen in der Hand. Jeder Mensch schien ihn anzustarren. Er hielt den Strauß zuerst mit den Blüten nach unten; dann klemmte er ihn unter den Arm. Dabei sah er die Zeitung, in die er gewickelt war. Neben den gelben Blüten stand das Bild eines Menschen mit aufgerissenem Mund. Es war die Photographie des Vorsitzenden des Volksgerichtshofes. Er las den Text. Vier Leute waren hingerichtet worden, weil sie nicht mehr an den Sieg Deutschlands geglaubt hatten. Man hatte ihnen mit einem Beil die Köpfe abgehackt. Die Guillotine war längst abgeschafft worden. Sie war zu menschlich. Graeber zerknüllte die Zeitung und warf sie fort.
Der Beamte hatte recht gehabt — das Standesamt befand sich in der Turnhalle der Bürgerschule. Der Standesbeamte saß vor einer Reihe von Kletterseilen, deren untere Enden an der Wand festgehakt waren. Dazwischen hing ein Bild Hitlers in Uniform; darunter ein Hakenkreuz mit dem deutschen Adler. Sie mußten warten. Ein älterer Soldat war vor ihnen. Er hatte eine Frau bei sich, die eine Goldbrosche in Form eines Segelschiffes auf der Brusttrug.DerMannwaraufgeregt,dieFraugelassen.Sielächelte Elisabeth zu, als wären sie Verschwörerinnen. »Trauzeugen«, sagte der Standesbeamte. »Wo sind Ihre Trauzeugen?« Der Soldat stotterte. Er hatte keine. »Ich dachte, bei Kriegsheiraten
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brauche man keine«, brachte er schließlich hervor. »Das wäre noch schöner. Bei uns herrscht Ordnung!« Der Soldat wandte sich an Graeber. »Kannst du uns vielleicht helfen, Kamerad? Du und das Fräulein? Nur unterschreiben.»
»Klar. Ihr könnt dann bei uns ebenso unterschreiben. Ich habe auch geglaubt, man brauche keine.»
»Wer denkt schon an so etwas!»
»Jeder, der seine Pflichten als Staatsbürger kennt«, erklärte der Standesbeamte schneidig. Er faßte anscheinend die Unterlassung als persönliche Beleidigung auf. »Gehen Sie vielleicht ohne Gewehr ins Feld?« Der Soldat starrte ihn an. »Das ist doch etwas ganz anderes. Ein Trauzeuge ist doch keine Waffe!»
»Das habe ich auch nicht behauptet. Es war lediglich ein Vergleich. Also, wie ist es nun? Haben Sie Zeugen?»
»Den Kameraden hier und die Dame.« Der Standesbeamte blickte Graeber mißmutig an. Es gefiel ihm nicht, daß die Sache so einfach zu lösen war. »Haben Sie Ausweise?« fragte er Graeber hoffnungsvoll. »Ja. Wir wollen selber heiraten.« Der Beamte knurrte etwas und nahm die Papiere. Er trug die Namen von Elisabeth und Graeber in das Register ein. »Unterschreiben Sie hier.« Alle vier unterschrieben. »Ich gratuliere Ihnen im Namen des Führers«, sagte der Standesbeamte frostig. Dann wandte er sich an Graeber. »Ihre Zeugen?»
»Hier.« Graeber zeigte auf die beiden.
Der Standesbeamte schüttelte den Kopf. »Ich kann nur einen von beiden annehmen«, erklärte er.
»Warum? Sie haben doch auch uns beide genommen.»
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»Sie waren noch ledig. Die zwei aber sind jetzt ein Ehepaar. Als Zeugen brauchen Sie zwei unabhängige Personen. Eine Ehefrau gilt nicht dafür.« Graeber wußte nicht, ob der Beamte recht hatte oder nur Schwierigkeiten machen wollte. »Gibt es nicht jemand hier, der das machen kann?« fragte er. »Einen anderen Beamten vielleicht?»
»Dafürzusorgenbinichnichtda«,erklärtederStandesbeamte mit leisem Triumph. »Wenn Sie keine Zeugen haben, können sie nicht heiraten.« Graeber sah sich um. »Was brauchen Sie?« fragte ein älterer Mann, der herangekommen war und zugehört hatte. »Einen Trauzeugen? Nehmen Sie mich.« Er stellte sich neben Elisabeth. Der Beamte musterte ihn kalt. »Haben Sie Papiere?»
»Natürlich.«DerMannzognachlässigeinenPaßausderTasche und warf ihn auf den Tisch. Der Standesbeamte las ihn, erhob sich und schnarrte: »Heil Hitler, Herr Obersturmbannführer!» »HeilHitler«,erwidertederObersturmbannführernachlässig. »UndnunmachenSiemalkeinweiteresTheaterhier,verstanden?
Was fällt Ihnen ein, sich so gegen Soldaten zu benehmen?» »Sehr wohl, Herr Obersturmbannführer! Bitte, wollen
Sie so gütig sein, hier zu zeichnen.« Graeber sah, daß der SSObersturmbannführer Hildebrandt sein zweiter Trauzeuge war. Der erste war der Pionier Klotz. Hildebrandt schüttelte Elisabeth und Graeber die Hand und dann auch Klotz und seiner Frau. Der Standesbeamte holte hinter den Klettertauen, die wie Seile zum Aufhängen aussahen, zwei Exemplare von Hitlers »Mein Kampf« hervor. »Eine Gabe der Stadt«, erklärte er säuerlich und starrte Hildebrandt nach. »Zivil«, sagte er. »Wie soll man da
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auch etwas wissen!« Sie gingen an dem ledernen Springpferd und den Barren vorbei zum Ausgang. »Wann mußt du zurück?« fragte Graeber den Pionier.
»Morgen.« Klotz zwinkerte. »Wir wollten es schon immer machen. Wozu dem Staat was schenken? Wenn ich eins vor die Plauze kriege, ist wenigstens für Marie gesorgt. Oder glaubst du nicht?»
»Doch.« Klotz schnallte seinen Tornister ab. »Du hast mir ausgeholfen, Kamerad. Ich habe hier eine gute Zervelatwurst. Laßt sie euch schmecken! Rede nicht, ich bin Landwirt, ich habe genug. Wollte sie eigentlich dem Standesbeamten geben. Stell dir vor, diesem Scheißer!»
»Das auf keinen Fall!« Graeber nahm die Wurst. »Hier hast du dafür dieses Buch. Ich habe nichts anderes als Hochzeitsgeschenk für dich bei mir.»
»Aber, Kamerad, ich habe ja gerade selber eins gekriegt.» »Das macht nichts, dann hast du es doppelt. Du kannst eins
deiner Frau geben.« Klotz betrachtete die Ausgabe von »Mein Kampf«. »Es ist ein schöner Einband«, sagte er. »Willst du es tatsächlich nicht selber behalten?»
»Ich brauche es nicht. Wir haben es in unserer Wohnung in Leder mit Silberbeschlägen.»
»Das ist natürlich etwas anderes. Also, dann mach’s gut.» »Du auch.« Graeber holte Elisabeth ein. »Ich habe Alfons
Binding nichts gesagt, weil ich ihn als Trauzeuge vermeiden wollte«, sagte er. »Ich wollte neben unsern Namen keinen Kreisleiterhaben.JetzthabenwireinenSS-Obersturmbannführer
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statt dessen erwischt. So geht es mit guten Vorsätzen.« Elisabeth lachte. »Dafür hast du die Bibel der Bewegung für eine Zervelatwurst eingetauscht. Das gleicht sich aus.« Sie gingen über den Marktplatz. Das Denkmal, das nur noch die Füße Bismarcks zeigte, war geradegestellt worden. Über der Marienkirche flatterten die Tauben. Graeber sah Elisabeth an.
Ich müßte eigentlich sehr glücklich sein, dachte er; aber er fühlte es nicht so, wie er es erwartet hatte.
Sie lagen auf einer Lichtung im Walde vor der Stadt. Violetter Dunst hing zwischen den Stämmen. An den Rändern blühten Primeln und Veilchen. Ein leichter Wind begann zu wehen. Elisabeth setzte sich plötzlich auf. »Was ist das da drüben? Das sieht ja aus wie ein verzauberter Wald. Oder träume ich? Die Bäume hängen ja voll Silber. Siehst du es auch?« Graeber nickte. »Es sieht aus wie Lametta.»
»Was ist es?»
»Stanniol. Oder sehr dünnes Aluminium, das in schmale Streifen geschnitten ist. So etwas Ähnliches wie das Silberpapier, in das man Schokolade wickelt.»
»Ja. Der ganze Wald hängt voll davon! Woher kommt es?» »Die Flugzeuge werfen es in Bündeln ab. Es stört die
Radioverbindungen. Ich glaube, man kann dann nicht mehr feststellen, wo sie sind. Es ist irgend etwas dergleichen. Die kleingeschnittenenStanniolstreifenunterbrechenoderstörendie Radiowellen, wenn sie langsam durch die Luft herunterwirbeln.» »Schade«, sagte Elisabeth. »Es sieht aus wie ein Wald von Weihnachtsbäumen. Und nun ist es auch wieder Krieg. Ich
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dachte, wir wären endlich einmal weg davon.« Sie sahen hinüber. Die Bäume der Lichtung waren voll von den Streifen, die von den Zweigen herunterwehten und funkelten und sich im Winde drehten. Die Sonne brach durch Wolkengebirge und verwandelte sie in ein glitzerndes Märchen. Das, was unter rasendem Tod und dem schrillen Geheul der Zerstörung heruntergewirbelt war, hing nun lautlos und glänzend in den Bäumen und war Silber und Schimmer und Erinnerung an Erzählungen der Kindheit und an das Fest des Friedens. Elisabeth lehnte sich an Graeber. »Wir wollen es so nehmen, wie es aussieht — und nicht als das, was es bedeutet.»
»Gut.« Graeber zog das Buch Pohlmanns aus der Tasche seines Mantels. »Wir können keine Hochzeitsreise machen, Elisabeth.
Aber Pohlmann hat mir dieses hier gegeben — es ist ein Bilder buch über die Schweiz. Irgendeinmal werden wir nach dem Kriege hinfahren und alles nachholen.»
»Die Schweiz. Da, wo nachts noch Licht ist?« Graeber öffnete das Buch. »Es ist auch kein Licht mehr in der Schweiz. Ich habe es in der Kaserne gehört. Wir haben ein Ultimatum gestellt, das Licht abzublenden. Die Schweiz hat ihm folgen müssen.»
»Warum?»
»Wir haben nichts dagegen gehabt, solange wir allein die Schweiz überflogen. Jetzt aber fliegen auch die anderen darüber. MitBombennachDeutschland.WennirgendwoStädteerleuchtet sind, können die Flieger sich leicht orientieren. Deshalb.»
»Das ist also auch vorbei.»
»Ja. Aber wir wissen zum mindesten eines — wenn wir nach
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dem Kriege einmal in die Schweiz kommen, wird alles noch genau so sein wie in diesem Buche. Wenn wir ein Bilderbuch von Italien oder Frankreich oder England hier hätten, wüßten wir das nicht.»
»Bei einem von Deutschland auch nicht.»
»Bei einem von Deutschland auch nicht mehr.« Sie blätterten die Seiten durch. »Berge«, sagte Elisabeth.
»Gibt es nichts anderes als Berge in der Schweiz? Gibt es keine Wärme da und keinen Süden?»
»Doch! Hier ist die italienische Schweiz.»
»Locarno — war da nicht eine große Friedenskonferenz? Eine, in der beschlossen wurde, daß nie wieder Krieg nötig sein sollte?»
»Ich glaube, ja.»
»Das hat nicht lange gehalten.»
»Nein. Hier ist Locarno. Sieh es dir an. Palmen, alte Kirchen, und da ist der Lago Maggiore. Und hier sind Inseln und Azaleen und Mimosen und Sonne und Frieden.»
»Ja. Wie heißt der Ort?» »Porto Ronco.»
»Gut«, sagte Elisabeth und legte sich zurück. »Wir wollen ihn uns merken. Dahin gehen wir dann später. Jetzt will ich nicht mehr reisen.« Graeber klappte das Buch zu. Er sah auf das flirrende Silber in den Bäumen, und dann nahm er Elisabeth um die Schultern. Er fühlte sie, und der Boden des Waldes war plötzlich da mit Gras und Ranken und einer rötlichen Blüte mit schmalen zarten Blättern, die größer und größer wurde, bis sie
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den Horizont ausfüllte und seine Augen sich schlossen. Der Wind starb. Es wurde rasch dunkel. Aus der Ferne kam leises Rollen. Artillerie, dachte Graeber im Halbschlaf; aber woher? Wo bin ich? Wo ist die Front? Und dann, erlöst, als er Elisabeth neben sich fühlte: wo sind denn hier Artilleriestände? Es muß ein Übungsschießen sein. Elisabeth regte sich. »Wo sind sie?« murmelte sie. »Bombardieren sie, oder fliegen sie weiter?»
»Es sind keine Flugzeuge.« Das Rollen wiederholte sich. Graeber richtete sich auf und lauschte. »Es sind keine Bomben und keine Artillerie und keine Flugzeuge, Elisabeth«, sagte er. »Es ist ein Gewitter.»
»Ist es nicht noch zu früh dafür?»
»Für Gewitter gibt es keine Regeln.« Sie sahen jetzt die ersten Blitze. Sie wirkten blaß und künstlich nach dem, was sie an Gewittern kannten, die von Menschen erzeugt wurden, und auch der Donner war kaum zu vergleichen mit dem Dröhnen eines Flugzeugschwarms — ganz zu schweigen von dem eines Bombardements.
Der Regen begann. Sie liefen über die Lichtung unter die Tannen. Schatten schienen mit ihnen zu laufen. Dann war das Rauschen des Regens in den Kronen über ihnen wie das Beifallklatschen einer fernen Menge, und im fahlen Licht sah Graeber, daß Elisabeths Haar voll hing von den silbernen Fäden, die von den Zweigen abgestreift worden waren. Sie waren wie ein Netz, in dem die Blitze sich verfingen. Sie kamen aus dem Wald heraus und fanden eine überdachte Straßenbahnhaltestelle, unter der sich eine Anzahl Menschen zu sammendrängten. Ein paar SS-Leute standen dabei. Sie waren jung und starrten
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