
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdftodsicher. Wer kann auch wissen, daß drei Buben in einer Hand sitzen!« Arnold meckerte etwas und mischte wieder. »Manchmal weiß man nicht, was besser ist, wenn man heiraten will«, sagte Mutzig. »Ein Arm weg oder ein Bein. Stockmann sagt, ein Arm. Aber wie kann man eine Frau mit einem Arm festhalten im Bett? Und festhalten muß man sie doch.»
»Das ist doch nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, daß du lebst.»
»Das ja, aber davon kannst du nicht dein ganzes Leben lang zehren. Nach dem Kriege dreht sich so etwas. Dann bist du kein Held mehr; dann bist du nur noch ein Krüppel.»
»Das glaube ich nicht. Und es gibt wunderbare Prothesen.» »Das meine ich nicht«, sagte Mutzig. »Ich meine nicht die
Arbeit.»
»Wir müssen eben den Krieg gewinnen«, erklärte Arnold plötzlichlaut.Erhattezugehört.»SollenandereMalihreKnochen hinhalten.Wirhabengenuggetan.«Erschoßeinenunfreundlichen Blick auf Graeber. »Wenn alle Drückeberger draußen wären, brauchten wir nicht immer weiter zurückzugehen!« Graeber antwortete nicht. Mit Amputierten konnte man nicht streiten; wer ein Glied verloren hatte, hatte immer recht. Man konnte streiten mit jemand, der einen Lungenschuß hatte oder einen Splitter im Magen und der vielleicht noch schlechter dran war; aber es war sonderbar — mit einem Amputierten nicht. Arnold spielte weiter. »Was meinst du, Ernst?« fragte Mutzig nach einer Weile. »Ich hatte in Münster ein Mädchen; wir schreiben uns noch. Sie glaubt, ich hätte einen Beinschuß. Ich habe ihr noch
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nichts von dem hier geschrieben.»
»Warte ab. Und sei froh, daß du nicht mehr zurück mußt.» »Das bin ich, Ernst. Aber man kann es nicht dauernd sein.» »Ihr kotzt mich an«, sagte plötzlich einer der Kiebitze, die um die Spieler herumsaßen, zu Mutzig. »Sauft und seid Männer!« Stockmann lachte. »Was lachst du?« fragte Arnold. »Ich habe gerade daran gedacht, wie es wäre, wenn wir diese Nacht eine schwere Bombe runtergepfeffert kriegten — so eine mitten rein, daß nichts als Mus überbleibt —, wozu haben wir uns dann alle die Sorgen gemacht?« Graeber stand auf. Er sah, daß dem Kiebitz beide Füße fehlten. Mine oder erfroren, dachte er automatisch. »Wo bleibt unsere Luftabwehr?« knurrte Arnold ihn an. »Braucht ihr das alles draußen? Hier ist ja fast nichts
mehr.»
»Draußen auch nicht.»
»Was?« Graeber merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. »Draußen warten wir auf die geheimen neuen Waffen«, sagte er. »Das sollen ja wahre Wunder sein.« Arnold starrte ihn an. »Verdammt noch mal, wie redest du eigentlich? Das hört sich ja an, als wenn wir den Krieg verlören! Das gibt es nicht! Meinst du, ich will in einem Drecks» wagen sitzen und Streichhölzer verkaufen, wie die nach dem ersten Kriege? Wir haben Rechte! Der Führer hat es versprochen!« Er warf aufgeregt seine Karten auf den Tisch. »Komm, stell das Radio an«, sagte der Kiebitz zu Mutzig. »Musik!« Mutzig drehte den Knopf. Ein Haufen blecherner Worte plärrte aus dem Lautsprecher. Er drehte weiter. »Laß das stehen!« erklärte Arnold ärgerlich.
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»Wozu? Das ist doch nur wieder eine Rede.»
»Laß es an, sage ich! Das ist eine Parteirede. Wenn jeder da immer zuhören würde, stände es besser um uns!« Mutzig drehte seufzend zurück. Ein Siegheil-Redner schrie in den Raum. Arnold lauschte mit zusammengebissenen Kinnbakken. Stockmann machte Graeber ein Zeichen und hob die Schultern. Graeber ging zu ihm hinüber. »Mach’s gut, Stockmann«, flüsterte er. »Ich muß weg.»
»Hast was Besseres zu tun, was?»
»Das nicht. Aber ich muß los.« Er ging hinaus. Die Blicke der andern folgten ihm. Ihm war, als wäre er nackt. Er ging langsam durch den Saal; er glaubte, das wäre weniger herausfordernd für die Amputierten. Aber er sah, wie sie ihm nachschauten. Mutzig humpelte mit ihm zur Tür. »Komm wieder«, sagte er im verwelkten Licht des grauen Korridors. »Heute hattest du Pech. Sonst sind wir viel munterer.« Graeber trat auf die Straße. Es dämmerte draußen, und mit einem Schlage war plötzlich die Angst um Elisabeth wieder da. Er hatte den ganzen Tag versucht, ihr zu entgehen. Aber jetzt, im ungewissen Licht, schien sie aus allen Winkeln wieder auf ihn zuzukriechen.
Er ging zu Pohlmann. Der alte Mann öffnete gleich. Es war, als hätte er jemand anderen erwartet. »Sie sind es, Graeber«, sagte er.
»Ja. Ich will Sie nicht lange stören. Ich will Sie nur etwas fragen.« Pohlmann öffnete die Tür. »Kommen Sie herein. Es ist besser, nicht draußen zu stehen. Die Leute brauchen nicht zu wissen...« Sie gingen in das Zimmer mit der Lampe. Graeber
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roch frischen Zigarettenrauch. Pohlmann hatte keine Zigarette in der Hand. »Was wollen Sie mich fragen, Graeber?« Graeber sah sich um. »Ist dieses der einzige Raum, den Sie haben?»
»Warum?»
»Es kann sein, daß ich jemand für ein paar Tage verstecken muß. Geht das hier?« Pohlmann schwieg.
»Es ist niemand, der gesucht wird«, sagte Graeber. »Ich möchte es nur zur Vorsicht wissen. Wahrscheinlich ist es auch gar nicht nötig. Ich habe Angst um jemand. Vielleicht ist es nur Einbildung.»
»Warum kommen Sie dafür zu mir?»
»Ich weiß niemand anderen.« Graeber hatte selbst nicht genau gewußt, weshalb er gekommen war. Er hatte nur das Gefühl gehabt, einen Schlupfwinkel suchen zu müssen für den äußersten Fall. »Wer ist es?»
»Jemand, den ich heiraten will. Der Vater ist im Lager. Ich habe Angst, daß man sie auch holt. Sie hat nichts getan. Vielleicht bilde ich mir alles auch nur ein.»
»Nichts ist Einbildung«, sagte Pohlmann. »Und Vorsicht ist besser als Reue. Sie können dieses Zimmer haben, wenn Sie es brauchen.« Graeber fühlte eine Welle von Wärme und Entspannung. »Danke«, sagte er. »Danke vielmals.« Pohlmann lächelte. Er sah plötzlich nicht mehr so hinfällig aus wie sonst.
»Danke«, sagte Graeber noch einmal. »Ich hoffe, ich werde es nicht brauchen.« Sie standen vor den Reihen der Bücher. »Nehmen Sie davon mit, was Sie wollen«, sagte Pohlmann behutsam. »Es hilft einem manchmal, einen Abend zu
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überstehen.« Graeber schüttelte den Kopf. »Mir nicht. Aber ich möchte eins wissen: wie das zusammengeht, diese Bücher, diese Gedichte, diese Philosophie — und die Unmenschlichkeit der SA, die Konzentrationslager und die Liquidierung unschuldiger Menschen?»
»Es geht nicht zusammen. Es existiert nur zur selben Zeit. Wenn sie lebten, die diese Bücher geschrieben haben, säßen die meisten auch im KZ.»
»Vielleicht.« Pohlmann sah Graeber an. »Sie wollen heiraten?» »Ja.« Der alte Mann zog einen Band aus den Bücherreihen.
»Ich kann Ihnen nichts anderes geben. Nehmen Sie dieses hier mit. Es ist nichts zu lesen; es sind Bilder, nur Bilder. Ich habe manchmal ganze Nächte hindurch nur Bilder angesehen, wenn ich nicht mehr lesen konnte. Bilder und Gedichte — das ging immer, solange ich Petroleum hatte. Danach, im Dunkel, gab es nur noch das Gebet.»
»Ja«, sagte Graeber ohne Überzeugung.
»Ich habe viel über Sie nachgedacht, Graeber. Und ich habe auch über das nachgedacht, was Sie mir neulich gesagt haben. Es gibt keine Antwort darauf.« Pohlmann stockte und sagte dann leise: »Nur eine. Man muß glauben. Glauben. Was bleibt uns sonst?»
»Woran?»
»An Gott. Und an das Gute im Menschen.» »Haben Sie nie daran gezweifelt?« fragte Graeber.
»Doch«, erwiderte der alte Mann. »Oft. Wie könnte ich sonst glauben?« Graeber ging zur Fabrik. Es war windig geworden,
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und zerfaserte Wolken trieben niedrig über die Dächer. Ein Zug Soldaten marschierte im Halbdunkel über den Platz. Sie hatten Pakete bei sich und waren auf dem Wege zum Bahnhof und zur Front. Ich hätte dabei sein können, dachte er. Er sah die Linde dunkel vor dem zerstörten Hause aufragen, und plötzlich fühlte er seine Schultern und seine Muskeln und dasselbe starke Lebensgefühl, das er das erste Mal gespürt hatte, als er sie gesehen hatte. Sonderbar, dachte er, ich habe Mitleid mit Pohlmann, und er kann mir nicht helfen — aber jedesmal, wenn ich bei ihm war, fühle ich das Leben tiefer und näher als sonst.
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19»Ihre Papiere? Warten Sie einen Augenblick.« Der Beamte setzte die Brille ab und schaute Elisabeth an. Dann stand er umständlich auf und ging hinter die
Holzwand, die seinen Schalter von der größeren Halle trennte. Graeber sah ihm nach und blickte sich um. Der Weg zum Ausgang war nicht frei. »Geh zur Tür«, sagte er leise. »Warte da. Wenn du siehst, daß ich die Mütze abnehme, geh sofort zu Pohlmann. Kümmere dich um nichts, geh sofort, ich komme nach.« Elisabeth zögerte.
»Geh!« wiederholte er ungeduldig. »Es kann sein, daß der alte Bock jemand holt. Wir können nichts riskieren. Warte draußen.»
»Vielleicht will er nur noch etwas von mir wissen.»
»Das werden wir rausfinden. Ich sage ihm, daß du dich nicht wohl fühlst und einen Augenblick an die Luft gegangen bist. Geh, Elisabeth!« Er stand am Schalter und sah ihr nach. Sie drehte sich um und lächelte. Dann verschwand sie in der Menge. »Wo ist Fräulein Kruse?« Graeber fuhr herum; der Beamte war wiedergekommen. »Sie kommt sofort zurück. Ist alles in Ordnung?« Der Beamte nickte. »Wann wollen Sie heiraten?»
»So bald wie möglich. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Mein Urlaub ist fast zu Ende.»
»Sie können sofort heiraten, wenn Sie wollen. Die Papiere sind fertig. Bei Soldaten ist das alles einfach und geht schnell.« Graeber sah die Papiere in der Hand des Mannes. Der Beamte lächelte. Graeber fühlte, daß er plötzlich schlaff wurde. Eine jähe Hitze stieg ihm ins Gesicht. »Alles erledigt?« fragte er
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und nahm seine Mütze ab, um sich den Schweiß abzuwischen. »Alles erledigt«, bestätigte der Beamte. »Wo ist Fräulein Kruse?« Graeber legte die Mütze auf den Schalter. Er blickte sich nach Elisabeth um. Die Halle war voll von Menschen, und er sah sie nicht. Dann bemerkte er seine Mütze auf dem Schalter. Er hatte vergessen, daß es das verabredete Zeichen gewesen war. »Einen Augenblick«, sagte er rasch. »Ich hole sie sofort.« Er drängte sich eilig zwischen den Leuten hindurch; vielleicht konnte er sie noch auf der Straße einholen. Aber als er zum Ausgang kam, stand sie ruhig hinter einem Pfeiler und wartete. »Gott sei Dank, da bist du!« sagte er. »Alles ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung, Elisabeth.« Sie gingen zurück. Der Beamte gab Elisabeth ihre Papiere. »Sind Sie die Tochter des Sanitätsrats Kruse?« fragte er. »Ja.« Graeber hielt den Atem an. »Ich kenne Ihren Vater«, sagte der Beamte.
Elisabeth sah ihn an. »Wissen Sie etwas von ihm?« fragte sie nach einer Weile.
»Nicht mehr als Sie. Haben Sie nichts von ihm gehört?» »Nein.«DerBeamtesetzteseineBrilleab.Erhattewasserblaue,
kurzsichtige Augen. »Hoffen wir das Beste.« Er gab Elisabeth die Hand. »Alles Gute. Ich habe Ihre Sache auf meine Kappe genommen und sie selbst erledigt. Sie können heute heiraten. Ich kann es für Sie vorbereiten. Wenn Sie wollen, sofort.»
»Sofort«, sagte Graeber.
»Heute mittag«, sagte Elisabeth. »Geht es um zwei Uhr?» »Ich werde es für Sie ansetzen lassen. Sie müssen zur Turnhalle
der Bürgerschule gehen. Da ist jetzt das Standesamt.»
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»Danke.« Sie standen am Ausgang. »Warum nicht sofort?« fragte Graeber. »Dann kann nichts mehr dazwischenkommen.« Elisabeth lächelte. »Ich muß etwas Zeit haben, um mich vorzubereiten, Ernst. Du verstehst das nicht, wie?»
»Nur halb.»
»Halb ist genug. Hole mich um viertel vor zwei ab.« Graeber zögerte. »Es ging so einfach«, sagte er dann. »Und was habe ich nicht alles erwartet! Ich weiß nicht, weshalb ich so ängstlich gewesen bin. Ich war wohl ziemlich lächerlich, wie?»
»Nein.»
»Ich glaube doch.« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Mein Vater glaubte auch, die Leute, die ihn warnten, seien lächerlich. Wir haben Glück gehabt, das ist alles, Ernst.« Er fand ein paar Straßen weiter eine Schneiderwerkstatt. Ein Mann, der aussah wie ein Känguruh, saß darin und nähte an einer Uniform.
»Kann ich bei Ihnen eine Hose reinigen lassen?« fragte Graeber. Der Mann sah auf. »Ich habe eine Schneiderei. Keine Reinigungsanstalt.»
»Das sehe ich. Ich möchte meine Sachen auch bügeln lassen.» »Die, die Sie anhaben?»
»Ja.« Der Schneider brummte etwas und stand auf. Er betrachtete den Fleck auf der Hose. »Es ist kein Blut«, sagte Graeber. »Es ist Olivenöl. Mit etwas Benzin bringen Sie es heraus.»
»Warum tun Sie es nicht selber, wenn Sie es so gut wissen? Benzin nützt bei solchen Flecken überhaupt nichts.»
»Mag sein. Sie wissen das sicher besser. Haben Sie etwas, was
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ich in der Zwischenzeit anziehen kann?« Der Schneider ging zu einem Vorhang und kam mit einer karierten Hose und einer weißen Jacke wieder. Graeber nahm sie. »Wie lange dauert es?« fragte er. »Ich brauche die Uniform für eine Hochzeit.»
»Eine Stunde.« Graeber zog sich um. »Ich komme dann in einer Stunde wieder.« Das Känguruh blickte ihn mißtrauisch an. Es hatte erwartet, daß er in der Werkstatt bleiben würde. »Meine Uniform ist ein gutes Pfand«, erklärte Graeber. »Ich laufe nicht weg.« Der Schneider bleckte überraschend die Zähne. »Ihre Uniform gehört dem Staat, junger Mann. Aber gehen Sie nur los. Und lassen Sie sich die Haare schneiden. Sie brauchen es, wenn Sie heiraten wollen.»
»Das stimmt.« Graeber ging zu einem Friseurladen. Eine knochige Frau bediente. »Mein Mann ist im Felde«, sagte sie. »Ich vertrete ihn solange. Setzen Sie sich hin. Rasieren?»
»Haareschneiden. Können Sie das auch?»
»Du lieber Gott! Ich kann es so gut, daß ich es schon beinahe wieder vergessen habe. Kopfwaschen auch? Wir haben noch tadellose Seife.»
»Ja. Kopfwaschen auch.« Die Frau war ziemlich kräftig. Sie schnitt Graeber die Haare und bearbeitete seinen Kopf gründlich mit Seife und einem rauhen Handtuch. »Wollen Sie Brillantine?« fragte sie. »Wir haben französische.« Graeber blickte aus halbem Dösen auf und erschrak. Seine Ohren schienen gewachsen zu sein,sokurzwardasHaarandenSchläfengestutzt.»Brillantine?« fragte die Frau befehlend noch einmal.
»Was hat sie für einen Geruch?« Graeber erinnerte sich an
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