
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdfmacht es leichter und schwerer und manchmal fast unmöglich. Es war immer noch Tapferkeit, aber es sah anders aus und hatte ganz andere Namen und begann eigentlich erst da. Er atmete tief. Er hatte das Gefühl, von einer gefährlichen Patrouille in feindlichem Gebiet in einen Unterstand zurückgekommen zu sein, nicht sicherer als vorher, aber doch für einen Augenblick geborgen.
»Sonderbar«, sagte Elisabeth. »Es muß Frühling sein. Dieses ist doch eine zerschossene Straße, und es ist gar kein Grund dafür da — trotzdem glaube ich, ich rieche schon Veilchen —«
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18Böttcher packte seine Sachen. Die andern standen um ihn herum. »Du hast sie tatsächlich gefunden?« fragte Graeber. »Ja, aber...»
»Wo?»
»Auf der Straße«, sagte Böttcher. »Sie stand einfach auf der Kellerstraße, Ecke Bierstraße, neben dem früheren Schirmgeschäft. Und ich habe sie im ersten Augenblick nicht einmal erkannt.»
»Wo war sie denn die ganze Zeit?»
»In einem Lager bei Erfurt. Also hört zu! Sie steht also neben dem Schirmgeschäft, und ich sehe sie nicht. Ich gehe vorbei, und sie ruft mich an. ,Otto! Kennst du mich nicht?‘« Böttcher machte eine Pause und blickte sich in der Kasernenstube um. »Wie soll man aber auch eine Frau wiedererkennen, Kameraden, die achtzig Pfund abgenommen hat!»
»Wie heißt das Lager, in dem sie war?»
»Ich weiß es nicht. Waldlager zwei, glaube ich. Ich kann sie fragen. Aber nun hört doch endlich mal zu! Ich starre sie also an undsage:,Alma,du?’,Ich!‘sagtsie.,Otto,ichhattesoeineAhnung, daß du Urlaub hättest; deshalb bin ich zurückgekommen!‘ Ich starre sie immer noch an. Eine Frau, die stramm war wie ein Bierwagenpferd, steht da, abgemagert, hundertzehn Pfund nur noch statt fast zweihundert, ein Gerippe, die Kleider schlottern, eine Bohnenstange!« Böttcher schnaufte. »Wie groß ist sie denn?« fragte Feldmann interessiert.
»Was?»
»Wie groß ist deine Frau?»
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»Ungefähr einssechzig. Warum?» »Dann hat sie jetzt ihr Normalgewicht.»
»Normalgewicht? Mensch, was redest du da?« Böttcher starrte Feldmann an. »Nicht für mich! Für mich ist sie ein Zwirnfaden! Was geht mich dein verdammtes Normalgewicht an! Ich will meine Frau wiederhaben, wie sie war, stattlich, mit einem Arsch, auf dem man Nüsse knacken konnte, und nicht mit einer traurigen Kaffeebohne stattdessen. Wozu kämpfe ich? Für so was?»
»Du kämpfst für unsern geliebten Führer und für unser teures Vaterland — nicht aber für das Schlachtgewicht deiner Frau«, sagte Reuter. »Das solltest du nach drei Jahren draußen schon langsam wissen.»
»Schlachtgewicht? Wer redet von Schlachtgewicht?« Böttcher sah wütend und hilflos von einem zum andern. »Lebendgewicht war es! Und mit allem andern könnt ihr mich am...»
»Halt!« Reuter hob warnend die Hand. »Denk, was du willst, aber sprich’s nicht aus! Und sei froh, daß deine Frau noch lebt!» »Das bin ich ja! Aber kann sie nicht leben und so kräftig sein
wie früher?»
»Aber Böttcher!« sagte Feldmann. »Das kann man doch wieder anfüttern.»
»So? Und womit? Mit dem bißchen, was es auf Marken gibt?» »Sieh zu, daß du was hintenrum kriegst.»
»Ihr habt es einfach! Ihr gebt gute Ratschläge«, erklärte Böttcher bitter. »Ich aber habe nur noch drei Tage Urlaub. Wie soll ich denn in drei Tagen die Frau anfüttern? Selbst wenn sie
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in Lebertran badet und siebenmal am Tage ißt, kann sie doch höchstens ein paar Pfund zunehmen, und was ist das schon? Kameraden, ich bin in einer traurigen Lage!»
»Wieso? Du hast doch noch die dicke Wirtin, für Fett, wenn es darum geht.»
»Das ist es ja gerade. Ich habe gedacht, wenn meine Frau wiederkäme, könnte ich mich auf die Wirtin überhaupt nicht mehr besinnen. Ich bin ein Familienmensch und kein Rumtreiber. Und nun gefällt mir die Wirtin besser.»
»Du bist eben eine verdammt oberflächliche Natur«, sagte Reuter.
»Ich bin nicht oberflächlich! Bei mir geht alles gleich zu tief, das ist mein Fehler. Sonst könnte ich ja zufrieden sein. Das versteht ihr nicht, ihr Kaffern.« Böttcher ging zu seinem Spind und warf die letzten Sachen in seinen Tornister.
»Weißt du schon, wo du mit deiner Frau leben wirst?« fragte Graeber. »Oder hast du noch eine Wohnung von früher?»
»Natürlich nicht. Ausgebombt! Aber lieber hause ich in einem Ruinenkeller als einen Tag länger hier. Das Unglück ist nur, daß mir die Frau nicht mehr gefällt. Ich liebe sie natürlich noch, da» für bin ich ja mit ihr verheiratet, aber sie gefällt mir einfach nicht mehr, so wie sie ist. Ich kann nun einmal nicht anders. Was soll ich machen? Sie fühlt es natürlich auch.»
»Wie lange hast du noch Urlaub?» »Drei Tage.»
»Kannst du dich nicht die paar Tage etwas verstellen?» »Kamerad«, sagte Böttcher ruhig, »im Bett kann sich vielleicht
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eine Frau verstellen. Ein Mann nicht. Glaube mir, es wäre besser gewesen, wenn ich wieder abgefahren wäre, ohne sie zu treffen. So quälen wir uns beide nur.« Er nahm seine Sachen und ging.
Reuter sah ihm nach. Dann wandte er sich an Graeber. »Und du? Was hast du vor?»
»Ich gehe zum Ersatzbataillon. Werde zur Vorsicht noch einmal fragen, ob ich weitere Papiere brauche.« Reuter grinste. »Das Pech deines Kameraden Böttcher erschreckt dich nicht, was?»
»Nein. Mich erschrecken ganz andere Dinge.»
»Dicke Luft«, sagte der Schreiber auf dem Ersatzbataillon. »Es ist dicke Luft an der Front. Weißt du, was man bei dicker Luft tut?»
»Man nimmt Deckung«, erwiderte Graeber. »Das weiß jedes Kind. Aber was geht mich das an! Ich habe Urlaub.»
»Du glaubst noch, daß du Urlaub hast«, verbesserte der Schreiber. »Was ist es wert für dich, wenn ich dir einen Befehl zeige, der heute angekommen ist?»
»Das kommt darauf an.« Graeber holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. »Dicke Luft«, wiederholte der Schreiber. »Schwere Verluste. Ersatz muß dringend raus. Urlauber, die keine wichtigen Gründe haben zu bleiben, sind sofort zurückzuschicken. Kapiert?»
»Ja. Was sind wichtige Gründe?»
»Tod von Angehörigen, Regelung notwendigster Familienangelegenheiten, schwere Erkrankung —« Der
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Schreiber griff nach den Zigaretten. »Verschwinde also! Mach dich unsichtbar. Wenn man dich nicht finden kann, kann man dich auch nicht zurückschicken. Meide die Kaserne wie die Pest. Krieche irgendwo unter, bis dein Urlaub vorbei ist. Dann melde dich ab. Was kann dir schon passieren? Strafe dafür, weil du deine Adresse nicht umgemeldet hast? Du gehst sowieso an die Front, basta.»
»Ich heirate«, sagte Graeber. »Ist das ein Grund?» »Du heiratest?»
»Ja. Deshalb bin ich hier. Ich will wissen, ob ich dazu außer meinem Soldbuch noch Papiere brauche.»
»Heirat! Das ist vielleicht ein Grund. Vielleicht, sage ich.« Der Schreiber zündete eine der Zigaretten an. »Es kann ein Grund sein. Aber wozu willst du es darauf ankommen lassen? Extrapapiere brauchst du als Frontschwein nicht. Und wenn du was brauchst, komm zu mir; ich mache dir das unter der Hand, so daß keiner was riecht. Hast du eine anständige Kluft? In den Klamotten kannst du doch nicht heiraten.»
»Kann man hier was umtauschen?»
»Geh zum Kammerbullen«, sagte der Schreiber. »Erkläre ihm, daß du heiratest. Sag, ich schickte dich. Hast du noch ein paar Extrazigaretten?»
»Nein. Aber ich kann vielleicht noch ein Paket besorgen.» »Nicht für mich. Für den Spieß.»
»Ich will sehen. Weißt du, ob bei einer Kriegsheirat die Frau besondere Papiere braucht?»
»Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht. Es muß ja schnell
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gehen.« Der Schreiber sah auf seine Uhr. »Geh gleich zur Kammer rüber. Der Spieß ist jetzt da.« Graeber ging zu dem Flügel, in dem die Kammer war. Sie lag unter dem Dach. Der Feldwebel war dick und hatte zwei verschiedenfarbige Augen. Das eine war von einem unnatürlichen, fast violetten Blau, wie ein Veilchen, das andere hell und braun. »Starren Sie mich nicht so an«, schnauzte er. »Haben Sie noch kein Glasauge gesehen?»
»Doch. Aber noch keins, das so verschieden war.»
»Dies ist nicht meins, Sie Idiot!« Der Feldwebel tippte auf das blaue, strahlende Auge. »Ich habe es mir von einem Kameraden geliehen. Meins ist gestern auf den Boden gefallen. Es war braun.
Die Dinger halten nichts aus. Man sollte sie aus Zelluloid machen.»
»Dann wären sie feuergefährlich.« Der Feldwebel sah auf, musterte Graebers Orden und grinste dann. »Stimmt auch. Eine Uniform habe ich trotzdem nicht für Sie. Tut mir leid. Sind alle schlechter als Ihre.« Er blickte Graeber durchdringend mit dem blauen Auge an. Das braune war matter. Graeber legte eine Schachtel von Bindings Zigaretten auf den Tisch. Der Feldwebel streifte sie mit einem Blick des braunen Auges, kehrte sich um und kam mit einem Rock zurück. »Das ist alles, was ich habe.« Graeber rührte den Rock nicht an. Er zog aus der Tasche eine kleine, flache Flasche mit Kognak, die er zur Vorsicht eingesteckt hatte, und stellte sie neben die Zigaretten. Der Feldwebel verschwand und kam mit einem besseren Rock und einer fast neuen Hose wieder. Graeber griff zuerst nach der Hose; seine eigene war stark geflickt. Er drehte die neue um und merkte, daß der Kammerbulle sie so gelegt hatte, daß ein handgroßer
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Fleck verborgen geblieben war. Graeber sah schweigend auf den Fleck und dann auf den Kognak.
»Es ist kein Blut«, sagte der Spieß. »Es ist feinstes Olivenöl. Der Mann, der sie getragen hat, kam aus Italien. Ein bißchen Benzin, und der Fleck ist raus.»
»Wenn das so leicht geht, weshalb hat er sie dann umgetauscht und nicht selber gereinigt?« Der Spieß zeigte sein Gebiß. »Vernünftig gefragt. Aber der Mann wollte eine Uniform haben, die nach Front stank. So etwas, wie Sie jetzt tragen. Hatte zwei Jahre auf einer Schreibstube in Mailand gesessen und seiner Braut Briefe von der Front geschrieben. Konnte nicht zu Hause mit einer neuen Hose ankommen, über die nur eine Schüssel Salat gefallen war. Es ist meine beste Hose, tatsächlich.« Graeber glaubte ihm nicht; aber er hatte nichts mehr bei sich, um etwas Besseres zu erhandeln. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Also schön«,sagtederFeldwebel.»EinandererVorschlag.Siebrauchen sie nicht zu tauschen. Behalten Sie Ihre alten Klamotten dazu. Sie haben so eine Extrauniform. Einverstanden?»
»Brauchen Sie die alten nicht, damit die Anzahl stimmt?« Der Spieß machte eine wegwerfende Bewegung. Sein blaues Auge fing einen Sonnenstrahl, der staubig durch das Fenster schoß. »Die Anzahl stimmt schon lange nicht mehr. Was stimmt überhaupt eigentlich noch? Wissen Sie das?»
»Nein.»
»Na, also«, sagte der Feldwebel.
Er kam am Stadtkrankenhaus vorbei und blieb stehen. Mutzig fiel ihm ein. Er hatte versprochen, ihn zu besuchen. Einen
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Moment zögerte er, aber dann ging er hinein. Er hatte plötzlich das abergläubische Gefühl, daß er das Schicksal bestechen könne durch eine gute Tat.
Die Amputierten hausten im ersten Stock. Im Erdgeschoß lagendieschwerenFälleunddiefrischOperierten,diebettlägerig waren; sie konnten so am schnellsten bei einem Luftangriff in die Keller geschafft werden. Die Amputierten galten nicht als hilflos; man hatte sie deshalb höher gelegt. Sie konnten während eines Alarms einander beistehen. Ein beidseitig Beinamputierter konnte im Notfalle immer noch die Nacken von zwei Armamputierten umklammern und zwischen ihnen den Keller erreichen, wenn das Personal die schweren Bettfälle retten mußte.
»Du?« sagte Mutzig zu Graeber. »Ich hätte nie geglaubt, daß du kommen würdest.»
»Ich auch nicht. Aber du siehst, ich bin hier.»
»Das ist schön von dir, Ernst. Stockmann ist auch bei uns. Warst du nicht mit ihm in Afrika?»
»Ja.« Stockmann hatte den rechten Arm verloren. Er spielte mit zwei anderen Krüppeln Skat. »Ernst«, sagte er. »Was ist mit dir los?« Sein Blick glitt suchend über Graeber. Er suchte unwillkürlich nach der Verwundung.
»Nichts«, erwiderte Graeber. Alle sahen ihn. Alle hatten denselben Blick wie Stockmann. »Urlaub«, sagte er verlegen. Er fühlte sich fast schuldig, weil er heil war.
»Ich dachte, du hättest genug abgekriegt in Afrika für einen ständigen Heimatpaß.»
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»Sie haben mich zurechtgeflickt und dann nach Rußland geschickt.»
»Da hast du Schwein gehabt. Ich eigentlich auch. Die andern sind alle in Gefangenschaft. Konnten nicht mehr rausgeflogen werden.« Stockmann wedelte mit seinem Stumpf. »Wenn man das hier Schwein nennen kann.« Der Mann in der Mitte klatschte mit seinen Karten auf den Tisch. »Spielen wir, oder quatschen wir?« fragte er grob. Graeber sah, daß er keine Beine mehr hatte. Sie waren sehr hoch amputiert. An seiner rechten Hand fehlten zwei Finger, und er hatte keine Wimpern mehr. Die Augenlider waren neu und rot und glänzend und schienen verbrannt gewesen zu sein. »Spielt weiter«, sagte Graeber. »Ich habe Zeit.»
»Nur noch diese Runde«, erklärte Stockmann. »Wir sind bald fertig.« Graeber setzte sich neben Mutzig ans Fenster. »Mach dir nichts aus Arnold«, flüsterte Mutzig. »Er hat seinen schlechten Tag.»
»Ist das der in der Mitte?»
»Ja. Seine Frau war gestern hier. Dann hat er immer ein paar schlechte Tage.»
»Was quatschst du da?« rief Arnold herüber. »Ich quatsche über alte Zeiten. Das darf ich doch wohl, was?« Arnold knurrte etwas und spielte weiter. »Sonst ist es hier sehr gemütlich«, sagte Mutzig eifrig. »Wir haben eigentlich sehr viel Spaß. Arnold war Maurer; das ist nicht einfach, weißt du. Und seine Frau betrügt ihn; seine Mutter hat ihm das erzählt.« Stockmann warf seine Karten auf den Tisch. »Verdammtes Pech! Der Kreuzsolo war
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