
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdfAdresse«, sagte die Frau, die hinter dem Schalter saß. »Sonst hätten wir das Paket nicht zur Hakenstraße geschickt. Aber Sie können ja noch den Briefträger Ihres Bezirks fragen.»
»Wo ist er?« Die Frau sah auf ihre Uhr. »Er ist jetzt unterwegs. Wenn Sie heute nachmittag gegen vier herkommen, ist er hier. Die Post wird dann ausgeteilt.»
»Kann er die Adresse wissen, wenn Sie sie hier nicht wissen?» »Natürlich nicht. Er erfährt sie ja durch uns. Aber es gibt Leute, die ihn trotzdem fragen wollen. Es beruhigt sie. Der
Mensch ist nun mal so. Oder nicht?»
»Ja, wahrscheinlich.« Graeber nahm sein Paket und ging die Treppe hinunter. Er sah auf das Datum. Das Paket war vor drei Wochen abgeschickt worden. Es hatte lange bis zur Front gebraucht, aber von da war es ihm rasch nachgekommen. Er stellte sich in eine Ecke und öffnete das braune Papier. Ein trockener Kuchen lag darin, ein Paar wollene Strümpfe, ein Paket Zigaretten und ein Brief seiner Mutter. Er las den Brief; es stand nichts darin von einem Wohnungswechsel oder von Luftangriffen. Er steckte ihn in die Tasche und wartete, bis er wieder ruhig geworden war. Dann ging er auf die Straße. Er sagte sich, daß auch nun bald ein Brief mit der neuen Adresse kommen müsse.
Er beschloß, zu Binding zu gehen. Vielleicht wußte der etwas Neues.
»Komm herein, Ernst!« rief Alfons. »Wir sind gerade dabei, eine erstklassige Flasche auszutrinken. Kannst uns helfen.« Binding war nicht allein. Ein SS-Mann lag halb auf dem
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großen Sofa unter dem Rubens, in einer Haltung, als wäre er daraufgefallen und könnte vorläufig nicht wieder hoch. Es war ein dünner Mensch mit einem käsigen Gesicht und Haaren, die so weißblond waren, daß es wirkte, als hätte er weder Augenwimpern noch Brauen. »Das ist Heini«, sagte Alfons mit einem gewissen Respekt. »Heini, der Schlangenzähmer! Und dies hier ist mein Freund Ernst, auf Urlaub von Rußland.« Heini war ziemlich betrunken. Er hatte sehr blasse Augen und einen kleinen Mund. »Rußland!« murmelte er. »War ich auch. Schöne Zeiten! Besser als hier!« Graeber sah Binding fragend an. »Heini hat bereits eine Flasche hinter sich«, erklärte Alfons. »Er hat Kummer. Das Haus seiner Eltern ist bombardiert worden. Der Familie ist nichts passiert, alle waren im Keller. Aber die Wohnung ist kaputt.»
»VierZimmer!«knurrteHeini.»AllesneueMöbel.DasKlavier auch. Tadelloses Klavier! Schöner Klang! Diese Schweine!»
»Heini wird das Klavier schon rächen«, sagte Alfons. »Komm, Ernst, was willst du trinken? Heini trinkt Kognak. Hier ist auch Wodka, Kümmel und was du sonst willst.»
»Gar nichts. Ich bin nur rasch vorbeigekommen, um zu fragen, ob du irgend etwas erfahren hast.»
»Noch nichts Neues, Ernst. Hier in der Gegend sind deine Eltern nicht mehr. Jedenfalls sind sie nirgendwo gemeldet. Auch nicht auf den Dörfern. Entweder sind sie fortgezogen und haben sich noch nicht gemeldet, oder sie sind mit einem Transport weggeschickt worden. Du weißt, wie das heute ist. Ganz Deutschland wird ja von den Schweinen bombardiert; da dauert es einige Zeit, bis die Verbindungen wieder in Ordnung
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sind. Komm, trink etwas. Ein einziges Glas wirst du doch riskieren können.»
»Gut. Einen Wodka.»
»Wodka«, murmelte Heini. »In Strömen haben wir den gesoffen! Und dann den Biestern in den Hals gegossen und angezündet. Flammenwerfer daraus gemacht. Kinder, sind die rumgesprungen! Zum Totlachen!»
»Was?« fragte Graeber.
Heini antwortete nicht. Er starrte verglast vor sich hin. »Flammenwerfer«, murmelte er. »Großartige Idee.»
»Wovon redet er?« fragte Graeber Binding.
Alfons hob die Schultern. »Heini hat viel mitgemacht. Er war beim SD.»
»Beim SD in Rußland?»
»Ja. Trink noch einen, Ernst.« Graeber nahm die Flasche Wodka von dem kupfernen Rauchtisch und betrachtete sie. Der klare Schnaps schwabbte hin und her. »Wieviel Prozent hat dieser Wodka?« Alfons lachte. »Der ist ziemlich scharf. Sicher seine sechzig Prozent. Die Iwans vertragen ihn scharf.« Sie vertragen ihn scharf, dachte Graeber. Und wenn er scharf ist, dann brennt er, wenn man ihn jemandem einschüttet und anzündet. Er sah Heini an. Er kannte genug Geschichten vom Sicherheitsdienst der SS, um zu wissen, daß das, was Heini da im Suff redete, wahrscheinlich keine Aufschneiderei war. Der SD liquidierte hinter der Front im großen und zu Tausenden unter dem Vorwand, Lebensraum für das deutsche Volk zu schaffen. Er liquidierte alles, was unerwünscht war, und meistens durch
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Erschießen; aber damit das Massentöten nicht allzu monoton würde, erfand die SS manchmal humorvolle Variationen. Graeber kannte einige; andere hatte Steinbrenner ihm erzählt. Die lebendigen Flammenwerfer waren neu. »Was starrst du so auf die Pulle?« fragte Alfons. »Sie beißt dich nicht. Schenk dir ein.« Graeber stellte die Flasche zurück. Er wollte aufstehen und weggehen; aber er blieb sitzen. Er zwang sich, sitzenzubleiben. Er hatte oft genug weggesehen und nichts wissen wollen. Er und hunderttausend andere, und sie hatten geglaubt, ihr Gewissen damit beschwichtigen zu können. Er wollte das nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr drücken. Deshalb war er nicht auf Urlaub gekommen.
»Willst du nicht doch noch einen haben?« fragte Alfons. Graeber blickte auf Heini, der halb schlief. »Ist er immer noch beim SD?»
»Nicht mehr. Er ist jetzt hier.» »Wo?»
»Er ist Oberscharführer im KZ.» »Im KZ?»
»Ja. Nimm doch noch einen Schluck, Ernst! So jung kommen wir nicht wieder zusammen! Und bleib noch ein bißchen. Lauf nicht immer gleich weg!»
»Nein«, sagte Graeber und starrte Heini weiter an. »Ich laufe nicht mehr weg.»
»Das ist endlich ein vernünftiges Wort. Was willst du trinken? Noch einen Wodka?»
»Nein. Gib mir Kümmel oder Kognak. Keinen Wodka.« Heini
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regte sich. »Natürlich keinen Wodka«, lallte er. »Viel zu schade dafür. Wodka haben wir selbst gesoffen. Es war Benzin. Brennt ja auch besser —« Heini kotzte im Badezimmer. Alfons stand mit Graeber vor der Tür. Der Himmel war voll glänzendweißer Schäfchenwolken. In den Birken sang eine Amsel, ein kleiner, schwarzer Ball mit einem gelben Schnabel und einer Stimme, in der aller Frühling war.
»Tolle Nummer, dieser Heini, was?« sagte Alfons. Er sagte das wie ein Knabe, der von einem blutdürstigen Indianerhäuptling spricht — mit einem Gemisch von Schauder und Bewunderung.
»Es ist eine tolle Nummer mit Leuten, die sich nicht wehren können«, erwiderte Graeber.
»Er hat einen steifen Arm, Ernst. Kann deshalb nicht Soldat werden. Hat sich das in einer Saalschlacht mit Kommunisten 1932 geholt. Das macht ihn auch so wild. Mensch, was er da erzählt hat, was?« Alfons paffte an einer verkohlten Zigarre, die er sich angezündet hatte, als Heini seine Erlebnisse zum besten gegeben hatte. Sie war ihm ausgegangen in der Aufregung. »Allerhand, was?»
»Ja, allerhand. Hättest du dabei sein mögen?« Binding dachte einen Augenblick nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht. Vielleicht einmal, um es gesehen zu haben. Aber sonst bin ich nicht der Typ dafür. Zu romantisch, Ernst.« Heini erschien in der Tür. Er war sehr blaß. »Dienst!« knurrte er. »Schon zu spät! Höchste Zeit! Werde die Schweine mal gründlich zwiebeln!« Er stolperte den Gartenpfad entlang. Vor der Pforte setzte er seine Mütze gerade, richtete sich steif auf und schritt wie ein Storch weiter.
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»Ich möchte nicht der sein, der Heini jetzt im KZ in die Finger fällt«, sagte Binding.
Graeber blickte auf. Er hatte dasselbe gedacht. »Findest du das richtig, Alfons?« fragte er.
Binding zuckte die Achseln. »Es sind Volksverräter, Ernst. Sie sind nicht umsonst da.«
»War Burmeister ein Volksverräter?« Alfons lachte. »Das war eine Privatsache. Ihm ist auch nicht viel passiert.»
»Und wenn ihm was passiert wäre?»
»Dann hätte er Pech gehabt. Es haben eine Menge Leute Pech heutzutage, Ernst. Durch Bomben zum Beispiel. Fünftausend allein in dieser Stadt. Bessere Leute als die im KZ. Also, was geht es mich an, was da passiert? Ich habe nicht die Verantwortung dafür. Und du auch nicht.« Ein paar Spatzen flogen schilpend auf das Vogelbad in der Mitte des Rasens. Einer watete hinein und schlug mit den Flügeln, und gleich darauf plantschten alle im Becken umher. Alfons beobachtete sie gespannt. Er schien Heini bereits vergessen zu haben.
Graeber sah das zufriedene, harmlose Gesicht, und plötzlich erkannte er die Hoffnungslosigkeit, zu der Gerechtigkeit und Mitgefühl ewig verurteilt waren: immer wieder an Selbstsucht, Gleichgültigkeit und Angst zu stranden — er erkannte es, und er erkannte auch, daß er selber nicht ausgenommen davon war, daß auch er darin verstrickt war, in einer anonymen, fernen und drohenden Weise. Ihm war, als gehörten er und Binding irgendwie zusammen, so sehr er sich auch dagegen wehrte. »So einfach ist das nicht mit der Verantwortung, Alfons«, sagte er
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trübe.
»Aber Ernst! Mach keine Witze! Verantwortlich kann man nur für das sein, was man selber getan hat. Und auch das nur, wenn es nicht auf Befehl war.»
»Wenn wir Geiseln erschießen, sagen wir das Gegenteil — daß sie verantwortlich sind für das, was andere getan haben.»
»Hast du Geiseln erschossen?« fragte Binding und drehte sich interessiert um.
Graeber antwortete nicht.
»Geiseln, das sind Ausnahmen, Ernst, Notfälle.»
»Alles sind Notfälle«, erklärte Graeber bitter. »Alles, was wir selber tun, meine ich. Nicht das, natürlich, was die andern tun.
Wenn wir eine Stadt bombardieren, ist das eine strategische Notwendigkeit; wenn die andern es tun, ist es ein gemeines Verbrechen.»
»Das ist es! Endlich denkst du richtig!« Alfons blickte Graeber pfiffig von der Seite an und schmunzelte. »Man nennt das moderne Politik! Recht ist, was dem deutschen Volke nützt, sagte der Reichsjustizminister. Und der muß es ja wissen! Wir tun nur unsere Pflicht. Wir sind nicht verantwortlich.« Er beugte sich vor. »Da — da ist die Amsel! Das erste Mal, daß sie badet! Wie die Spatzen ausreißen!«
Graeber sah plötzlich Heini vor sich. Die Straße war leer, zwischen den Gartenhecken lag träges Sonnenlicht, ein gelber Schmetterling taumelte niedrig über den Sandstreifen, mit dem der gepflasterte Fußsteig eingefaßt war, und ungefähr hundert Meter weiter bog Heini gerade um die Ecke. Graeber ging auf
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dem Sandstreifen. Es war sehr still, und seine Fußtritte waren nicht zu hören. Wenn jemand Heini erledigen wollte, war dieses die richtige Gelegenheit, dachte er. Niemand war zu sehen. Die Straße schien zu schlafen. Man konnte auf dem Sandstreifen fast lautlos herankommen. Heini würde nichts merken. Man konnte ihn niederschlagen und ihn erwürgen oder ihn erstechen. Ein Schuß würde zuviel Lärm machen und zu rasch Leute heranbringen. Heini war nicht sehr kräftig; man konnte ihn erwürgen. Graeber merkte, daß er rascher ging. Nicht einmal Alfons würde Verdacht schöpfen, dachte er. Er würde vermuten, daß jemand sich an Heini gerächt habe. Gründe genug dafür gab es ja. Es war eine einzigartige Gelegenheit für jemand, sich zu rächen. Eine Gelegenheit, wie sie nicht leicht wiederkam. Und es war auch eine Gelegenheit, ohne Rache einen Mörder aus der Welt zu schaffen, der in einer Stunde wahrscheinlich ein paar entsetzte, wehrlose Menschen foltern würde.
Graeber spürte, wie seine Hände schwitzten. Ihm war plötzlich sehr heiß. Er kam an die Ecke und sah, daß er Heini um dreißig Meter eingeholt hatte. Immer noch war niemand zu sehen. Wenn er rasch den Sandstreifen entlanglief, konnte in einer Minute alles vorbei sein.
Er fühlte, wie sein Herz auf einmal schlug wie ein Hammer. Es schien so laut zu schlagen, daß er einen Augenblick fürchtete, Heini könnte es hören. Was ist los mit mir? dachte er. Was geht mich das an? Und wie komme ich da hinein? Ein Gedanke, der einen Augenblick vorher noch zufällig gewesen war, schien sich jäh in einen finsteren Zwang zu verwandeln, und es war plötzlich, als hinge alles davon ab, als könnte es
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eine Rechtfertigung werden für vieles in der Vergangenheit, für Graebers eigenes Leben, für Dinge darin, die er vergessen wollte, für etwas, das er getan, und etwas, das er versäumt hatte. Rache, dachte er verwirrt, aber es war ja jemand, den er kaum kannte, jemand, der ihm nichts getan hatte, jemand, an dem er keine Rache zu nehmen brauchte, noch nicht, dachte er, aber konnte es nicht sein, daß Elisabeths Vater bereits zu den Opfern Heinis gehörte, konnte er nicht heute dazu gehören oder morgen, und wem hatten die Geiseln etwas getan oder die unzähligen Unschuldigen, und wo war die Schuld dafür, und wo die Sühne? Er starrte auf den Rücken Heinis. Sein Mund war trocken. Ein Hund bellte durch ein Gartentor. Er erschrak und sah sich um. Ich habe zuviel getrunken, dachte er, ich muß stehenbleiben, dies alles hat nichts mit mir zu tun, es ist verrückt — aber er ging weiter, rascher und lautlos, getrieben von etwas, das ihm wie eine dröhnende und gerechte Notwendigkeit erschien, ein Ausgleich und eine Rechtfertigung für den vielen Tod, der hinter ihm lag.
Er war auf zwanzig Meter herangekommen, ohne zu wissen, was er tun würde. Dann sah er, daß am Ende der Straße eine Frau aus einem Eingang in den Hecken trat. Sie trug eine orangefarbene Bluse und einen Korb und kam ihm entgegen. Er blieb stehen. Alles in ihm löste sich. Dann ging er langsam weiter. Die Frau schwenkte ihren Korb und ging gemächlich an Heini vorüber, auf ihn zu. Sie kam mit ruhigen Schritten, sie hatte starke breite Brüste, ein breites gebräuntes Gesicht und glattes gescheiteltes dunkles Haar. Der Himmel stand hinter ihrem Kopf, blaß, flimmernd und undeutlich, nur sie allein war
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einen Augenblick deutlich, alles andere verschwamm, sie allein war wirklich, sie war das Leben, sie trug es auf ihren breiten Schultern, sie brachte es mit sich, und es war groß und gut, und hinter ihr waren Wüste und Mord.
Sie sah ihn im Vorbeigehen an. »Guten Tag«, sagte sie freundlich. Graeber nickte. Er konnte nichts sagen. Er hörte ihre Schritte hinter sich, und die Wüste war wieder da, flimmernd, und in dem Flimmern sah er Heinis dunkle Gestalt um die Ecke gehen, und die Straße war frei.
Er sah sich um. Die Frau ging gleichmäßig weiter und kümmerte sich um nichts. Warum laufe ich nicht? dachte er. Noch habe ich Zeit, es zu tun; aber er wußte bereits, daß er es nicht tun würde. Die Frau hat mich gesehen, dachte er, sie würde mich wiedererkennen, es geht nicht mehr. Aber hätte er es getan, wenn die Frau nicht gekommen wäre? Hätte er nicht eine andere Entschuldigung gefunden? Er wußte es nicht. Er kam zur Kreuzung, an der Heini abgebogen war. Heini war nicht mehr da. Erst an der nächsten Ecke sah er ihn. Er stand mitten auf dem Fahrweg. Ein SS-Mann sprach mit ihm und ging dann mit ihm weiter. Aus einem Torweg kam ein Briefträger. Zwei Radfahrer standen ein Stück weiter mit ihren Rädern. Es war vorbei. Graeber war plötzlich, als erwachte er. Er sah sich um. Was war das? dachte er. Verdammt, ich wahr nahe daran, es zu tun! Woher kam das? Was ist los mit mir? Was bricht da plötzlich heraus? Er ging weiter. Ich muß auf mich aufpassen, dachte er. Ich habe geglaubt, ich wäre ruhig. Ich bin nicht ruhig. Ich bin viel mehr durcheinander, als ich weiß. Ich muß auf mich aufpassen, sonst mache ich noch verdammten Unsinn!
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