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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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»Hör nicht auf ihn«, sagte Feldmann. »Er ist neidisch, das ist alles. Was passierte dann, nachdem du sie Luise genannt hattest?»

»Luise? Nicht Luise. Sie heißt ja Luise. Ich habe sie Alma genannt.»

»Also Alma, gut. Und dann?»

»Und dann? Du hältst es nicht für möglich, Kamerad! Anstatt zu lachen oder Krach zu machen, was tut sie? Sie fängt an zu heulen. Tränen wie ein Krokodil, stell dir das vor! Dicke Frauen sollten nicht weinen, Kamerad —« Reuter hustete, schloß sein Buch und sah Böttcher interessiert an. »Warum nicht?»

»Es steht ihnen nicht. Paßt nicht zu ihrer Stattlichkeit. Dicke Frauen sollten lachen.»

»HättedeineAlmagelacht,wenndusieLuisegenannthättest?« fragte der Kartenspieler mit dem Eierkopf giftig. »Wenn meine Alma das gewesen wäre«, erklärte Böttcher ruhig und mit großer Überlegenheit, »dann hätte ich zunächst einmal die nächste Bierflasche in die Schnauze gekriegt. Darauf alles, was nicht angeschraubt gewesen wäre. Und hinterher, wenn ich wieder zu mir gekommen wäre, hätte sie mich so erledigt, daß nur noch meine Schuhe übriggeblieben wären. So wäre das geworden, du Kamel.« Der Eierkopf schwieg eine Weile. Das Bild schien ihn überwältigt zu haben. »Und so eine Frau betrügst du?« fragte er dann heiser.

»Aber, Mensch, ich betrüge sie doch gar nicht! Wenn sie da wäre, würde ich die Wirtin ja überhaupt nicht ansehen! So was ist doch kein Betrug. Es ist einfach Notwehr.« Reuter drehte sich

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zu Graeber herum. »Und du? Was hast du mit deiner Flasche Armagnac erreicht?»

»Nichts.»

»Nichts?« fragte Feldmann. »Und dafür schläfst du bis Mittag wie ein Toter?»

»Ja. Weiß der Teufel, weshalb ich plötzlich so müde bin. Ich könnte gleich weiterschlafen. Mir ist, als hätte ich eine Woche lang kein Auge zugemacht.»

»Dann leg dich wieder hin und schlaf weiter.»

»Ein weiser Rat«, sagte Reuter. »Der Rat des Meisterschläfers Feldmann.»

»Feldmann ist ein Esel«, erklärte der Eierkopf, der gerade paßte. »Er verschläft seinen ganzen Urlaub. Das ist dann nachher genau so, als hätte er überhaupt keinen gehabt. Er könnte ebensogut an der Front geschlafen und seinen Urlaub nur geträumt haben.»

»Dasmöchtestduwohl,Bruder.GenaudasGegenteilstimmt«, erwiderte Feldmann. »Ich schlafe hier, und wenn ich träume, dann träume ich, ich wäre an der Front.»

»Und wo bist du wirklich?« fragte Reuter. »Was? Hier, wo sonst?»

»Bist du sicher?« Der Eierkopf meckerte. »Das ist es, was ich meine«, sagte er. »Es ist ganz egal, wo er ist, wenn er dauernd pennt. Das Rindvieh weiß es nur nicht.»

»Es ist nicht egal, wenn ich aufwache, ihr Schlauberger«, erklärte Feldmann plötzlich verärgert und legte sich zurück. Reuter wandte sich wieder zu Graeber. »Und du? Was willst du

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heute für deine unsterbliche Seele tun?»

»Sag mir, wo man hingehen kann, wenn man gut zu Abend essen will.»

»Allein?»

»Nein.»

»Dann geh zum Germania. Es ist das einzige. Es kann nur sein daß sie dich nicht reinlassen. Nicht in deiner Frontkluft. Es ist ein Hotel für Offiziere. Das Restaurant auch. Doch vielleicht hat der Kellner Respekt vor deinem Klempnerladen.« Graeber sah an sich herunter. Seine Uniform war geflickt und sehr schäbig. »Kannst du mir deinen Waffenrock leihen?« fragte er.

»Gerne. Du bist nur dreißig Pfund leichter als ich. Man wird dich schon an der Tür damit rauswerfen. Aber ich kann dir eine Unteroffizier-Extrauniform in deiner Größe besorgen, Hosen auch. Wenn du deinen Mantel drüberziehst, merkt in der Kaserne keiner was davon. Warum bist du übrigens immer noch einfacher Muschkote? Du müßtest doch längst Leutnant sein.»

»Ich war schon einmal Unteroffizier. Dann habe ich einen Leutnant verprügelt und bin dafür degradiert worden. Hatte Glück, daß ich nicht in die Strafkompanie kam. Mit der Beförderung aber war es seitdem aus.»

»Gut. Du hast damit sogar ein moralisches Recht auf die Unteroffiziers-Uniform. Wenn du die Dame ins Germania führst, bestelle dir als Wein einen Johannisberger Kochsberg 37, Kellerabzug G. S. von Mumm. Der läßt Tote aus dem Grabe auferstehen.»

»Gut. Das brauche ich.« Es war nebelig geworden. Graeber

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stand auf der Brücke, die über den Fluß führte. Das Wasser war voll von Trümmern und kroch schwarz und träge zwischen Balken und Hausgeräten umher. Dunkel ragte gegenüber die Silhouette der Schule aus dem weißen Dunst. Er starrte eine Weile hinüber; dann ging er über die Brücke zurück und eine kleine Gasse entlang, die zum Schulhof führte. Das große, eiserne Tor war naß von der Feuchtigkeit und stand weit offen. Er ging hinein. Der Schulhof war leer. Niemand war da, es war schon zu spät dafür. Er ging über den Schulhof bis zum Ufer des Flusses. Die Stämme der Kastanienbäume wuchsen dunkel in den Nebel, als wären sie aus Kohle.

Unter ihnen standen feuchte Bänke. Graeber erinnerte sich, daß er oft hier gesessen hatte. Nichts von dem, was er damals geträumt hatte, hatte sich erfüllt. Er war von der Schule in den Krieg gegangen.

Er starrte eine Zeitlang auf den Fluß. Ein zerbrochenes Bett war am Ufer angetrieben worden. Wie dicke Schwämme lagen schwere, nasse Kissen darin. Ihn fröstelte. Er ging zurück und blieb vor dem Schulgebäude stehen. Dann versuchte er die Eingangstür. Sie war unverschlossen. Er öffnete sie und ging zögernd hinein. In der Eingangshalle blieb er stehen und sah sich um. Er roch den beklemmenden Schulgeruch und sah die halbdunkle Treppe und die dunkel gestrichenen Türen, die zur Aula und zu dem Konferenzzimmer führten. Er empfand nichts. Nicht einmal Verachtung oder Ironie. Er dachte an Wellmann. Man soll nicht zurückgehen, hatte der gesagt. Er hatte recht gehabt. Graeber fühlte nichts als Leere. Alles, was er nach der Schulzeit an Erfahrung gesammelt hatte, war gegen

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das gewesen, was er hier gelernt hatte. Nichts war geblieben. Es war ein Bankrott.

Er drehte sich um und ging hinaus. Zu beiden Seiten der Eingangstür sah er zwei Gedenktafeln für Gefallene. Er kannte die auf der rechten Seite; es waren die für die Toten vom ersten Weltkrieg. An allen Parteitagen war sie mit Tannengrün und Eichenlaub bekränzt gewesen, und Schimmel, der Direktor, hatte glühende Reden vor ihr gehalten über Rache, Großdeutschland und die kommende Vergeltung. Schimmel hatte einen dicken, weichen Bauch gehabt und immer sehr geschwitzt. Die Tafel auf der linken Seite war neu. Graeber kannte sie nicht. Sie war für die Toten des jetzigen Krieges. Er las die Namen. Es waren viele; aber die Tafel war groß, und es war nebenan noch Platz für eine zweite.

Draußen, auf dem Schulhof, traf er den Pedell. »Suchen Sie et« was?« fragte der alte Mann. »Nein, ich suche nichts.« Graeber ging weiter. Darm fiel ihm etwas ein. Er ging zurück.

»Wissen Sie, wo Pohlmann wohnt?« fragte er. »Herr Pohlmann, der hier Lehrer war.»

»Herr Pohlmann ist nicht mehr im Amt.»

»Das weiß ich. Wo wohnt er?« Der Pedell sah sich um. »Niemand ist hier, um zuzuhören«, sagte Graeber. »Wo wohnt er?»

»Er wohnte früher am Jahnplatz sechs. Ob er jetzt noch da wohnt, weiß ich nicht. Sind Sie ein Schüler von hier?»

»Ja. Ist Schimmel noch da, der Direktor?»

»Natürlich«, erwiderte der Pedell verwundert. »Natürlich ist

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er noch da. Warum soll er nicht mehr da sein?»

»Ja«, sagte Graeber. »Warum nicht?« Er ging weiter. Nach einer Viertelstunde merkte er, daß er nicht mehr wußte, wo er war. Der Nebel war dichter geworden, und er hatte in den Ruinen die Richtung verloren. Sie sahen alle ähnlich aus, und die Straßen waren nicht zu unterscheiden. Es war ein sonderbares Gefühl — als hätte er sich verirrt in sich selbst.

Es dauerte eine Zeitlang, ehe er den Weg zur Hakenstraße fand. Dann wurde es plötzlich windig, und der Nebel begann zu wogen und zu ziehen wie ein lautloses, geisterhaftes Meer. Er kam zum Hause seiner Eltern. Er fand keine Nachricht und wollte gerade weitergehen, als er einen merkwürdig hallenden Ton hörte. Er war wie der Klang einer Harfe. Er sah sich um. Die Straße war leer, so weit er sehen konnte. Der Hall kam wieder, höher jetzt, klagend und verschwebend, als läutete eine unsichtbare Boje warnend im Nebelmeer. Er wiederholte sich, tiefer, dann höher, unregelmäßig und doch in fast regelmäßigen Abständen, und schien aus den Lüften zu kommen, als spielte jemand auf den Dächern Harfe.

Graeber horchte. Dann versuchte er, den Tönen zu folgen; aber er konnte keine Richtung entdecken. Sie schienen überall zu sein und von überall zu kommen, stark und fordernd, manchmal allein und manchmal wie ein Arpeggio und ein unaufgelöster Akkord trostloser Trauer.

Der Luftschutzwart, dachte er. Der Verrückte — wer sonst? Er ging zu dem Hause, von dem nur noch die Fassade stand, und riß die Tür auf. Eine Gestalt sprang dahinter aus einem Sessel auf. Graeber bemerkte, daß es der grüne Sessel war, der auf den

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Trümmern seines Elternhauses gestanden hatte. »Was ist los?« fragte der Luftschutzwart erschrocken und scharf. Graeber sah, daß er nichts in der Hand hatte. Die Töne erklangen weiter. »Was ist das?« fragte er. »Woher kommt es?« Der Luftschutzwart brachte sein feuchtes Gesicht nahe an das Graebers. »Ah, der Soldat! Der Vaterlandsverteidiger! Was das ist? Hören Sie es nicht? Das ist das Requiem für die Begrabenen! Grabt sie aus! Grabt sie aus! Hört auf mit dem Mord!»

»Unsinn!« Graeber starrte durch den steigenden Nebel nach oben. Er sah etwas wie ein dunkles Kabel im Winde schwingen und hörte jedesmal, wenn es zurückschwang, den rätselhaften Gongton. Plötzlich erinnerte er sich an das Klavier, das er mit abgerissenen Deckeln hoch in der Ruine hatte hängen sehen. Das Kabel schlug gegen die offenen Saiten. »Es ist das Klavier«, sagte er.

»Es ist das Klavier! Es ist das Klavier!« äffte der Luftschutzwart ihn nach. »Was verstehen Sie schon davon, Sie trostloser Mörder! Es ist die Glocke der Toten, und der Wind läutet sie! Der Himmel ruft mit ihr um Erbarmen, Sie schießender Automat, um Erbarmen, das es auf der Erde nicht mehr gibt! Was wissen Sie denn vom Tode, Sie Zerstörer! Und wie könnten Sie? Die, die ihn verursachen, wissen nie etwas davon!« Er beugte sich vor. »Die Toten sind überall«, flüsterte er. »Sie liegen unter den Trümmern mit ihren zertretenen Gesichtern und den ausgebreiteten Armen, sie liegen da, aber sie werden auferstehen, und sie werden euch jagen...« Graeber trat auf die Straße zurück. »Jagen«, flüsterte der Luftschutzwart hinter ihm her. »Sie werden euch anklagen, und Gericht wird gehalten werden für jeden einzelnen...« Graeber

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sah ihn nicht mehr. Er hörte nur noch die heisere Stimme aus den wirbelnden Nebelfetzen. »Denn was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, spricht der Herr —« Er ging weiter. »Geh zum Teufel!« murmelte er. »Geh zum Teufel, und begrab dich selbst unter den Ruinen, auf denen du hockst wie ein Totenvogel!« Er ging weiter. Tote, dachte er erbittert. Tote, Tote! Ich habe genug von den Toten! Weshalb bin ich zurückgekommen? War es nicht auch, um zu spüren, daß irgendwo in dieser Wüste noch Leben ist?

Er klingelte. Die Tür öffnete sich sofort, als hätte jemand dicht dahinter gestanden. »Ach, Sie —«, sagte Frau Lieser überrascht. »Ja, ich«, erwiderte Graeber. Er hatte Elisabeth erwartet. Sie kam im selben Augenblick aus ihrem Zimmer. Frau Lieser wich dieses Mal ohne ein weiteres Wort zurück. »Komm herein, Ernst«, sagte Elisabeth. »Ich bin gleich fertig.« Er folgte ihr. »Ist das dein hellstes Kleid?« fragte er und blickte auf den schwarzen Pullover und den dunklen Rock, den sie trug. »Hast du vergessen, daß wir heute abend ausgehen?»

»Hast du das wirklich gemeint?»

»Natürlich! Schau mich an! Dies ist die Extrauniform eines Unteroffiziers. Ein Kamerad hat sie mir besorgt. Ich bin zum Schwindler geworden, damit ich mit dir zum Hotel Germania gehen kann — und es ist immer noch die Frage, ob man nicht erst vom Leutnant aufwärts reingelassen wird. Das hängt dann wahrscheinlich von dir ab. Hast du kein anderes Kleid?»

»Ja. Aber...« Graeber sah den Wodka Bindings auf dem Tisch. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Vergiß es. Und vergiß Frau Lieser und die Nachbarn. Du schadest niemandem; das

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ist das Einzige, was zählt. Und du mußt mal raus, sonst wirst du verrückt. Hier, trink einen Schluck Wodka.« Er füllte ein Glas und gab es ihr. Sie trank es aus. »Gut«, sagte sie. »Es wird rasch gehen. Ich war schon ungefähr vorbereitet; aber ich wußte nicht, ob du es vergessen hattest. Du mußt nur aus dem Zimmer gehen, während ich mich umziehe. Ich möchte nicht von Frau Lieser wegen Prostitution denunziert werden.»

»Damit würde sie in diesem Falle nicht durchkommen. Bei Soldaten gilt so etwas als vaterländisch. Aber ich werde draußen auf dich warten. Auf der Straße, nicht im Vorzimmer.« Er ging die Straße auf und ab. Der Nebel war dünner geworden, aber es rauchte noch zwischen den Häuserwänden wie in einer Waschküche. Plötzlich klirrte ein Fenster. Elisabeth lehnte mit nackten Schultern in einem Rahmen von Licht und hielt zwei Kleider heraus. Eines war golden und braun und das andere von einer unbestimmten Farbe und dunkel. Sie flatterten wie Fahnen im Winde.

»Welches?« fragte sie.

Er zeigte auf das goldene. Sie nickte und zog das Fenster zu. Er sah sich um. Niemand hatte den Verstoß gegen die Luftschutzordnung bemerkt.

Er ging wieder auf und ab, aber die Nacht schien plötzlich weiter und voller geworden zu sein. Die Müdigkeit des Tages, die sonderbare Stimmung des Abends und der Entschluß, sich abzuwenden von der Vergangenheit, hatten sich in eine sanfte Erregung und eine unruhige Erwartung verwandelt. Elisabeth kam aus der Tür. Sie kam rasch und schlank und ge« schmeidig und wirkte größer als vorher, in dem langen goldenen Kleid,

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auf dem das schwache Licht glitzerte. Auch ihr Gesicht war verändert. Es war schmaler, und der Kopf schien kleiner, und es dauerte einen Augenblick, bis Graeber entdeckte, daß es so war, weil sie ein Kleid trug, das den Hals freiließ. »Hat Frau Lieser dich gesehen?« fragte er.

»Ja. Es verschlug ihr die Sprache. Sie meint, ich müsse immer« fort in Sack und Asche Buße tun. Einen Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen.»

»Ein schlechtes Gewissen haben immer die falschen Leute.» »Es war nicht nur ein schlechtes Genwissen. Es war auch

Angst. Denkst du...»

»Nein«, erwiderte Graeber. »Ich denke gar nichts. Und wir wollen heute abend auch nichts mehr denken. Wir haben für eine Weile genug gedacht und uns genug damit geängstigt. Wir wollen jetzt einmal versuchen, ob wir uns nicht einfach etwas freuen können —« Das Hotel Germania stand zwischen zwei eingestürzten Häusern, wie eine reiche Verwandte zwischen zwei verarmten. Der Schutt war zu beiden Seiten des Hotels sauber aufgestapelt worden, und die beiden Ruinen wirkten dadurch nicht mehr wild und vom Tode umweht; sie waren bereits ordentlich und fast bürgerlich geworden.

Der Portier musterte Graebers Uniform mit einem abschätzenden Blick. »Wo ist die Weinstube?« fragte Graeber scharf, bevor er etwas sagen konnte.

»Hinten, rechts von der Halle, mein Herr. Fragen Sie bitte nach dem Oberkellner Fritz.« Sie gingen durch die Halle. Ein Major und zwei Hauptleute kamen an ihnen vorbei. Graeber grüßte.

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