
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdf»Ja.»
»Der Herr Kreisleiter ist nicht zu Hause. Er mußte zu einer wichtigen Versammlung der Partei. Aber er hat eine Nachricht für Sie hinterlassen.« Graeber folgte ihr in das Haus mit den Geweihen und den Bildern. Der Rubens leuchtete selbst in der Dämmerung. Auf dem kupfernen Rauchtisch stand eine eingewickelte Flasche. Daneben lag ein Brief. Alfons schrieb, er habe noch nicht viel erfahren können; aber Graebers Eltern seien nirgendwo in der Stadt als tot oder verwundet gemeldet. Wahrscheinlich seien sie also abtransportiert worden oder umgezogen. Graeber möge morgen wiederkommen. Mit dem Wodka solle er heute abend feiern, daß er weit weg von Rußland sei.
Graeber steckte den Brief und die Flasche in die Tasche. Die Haushälterin war in der Tür stehengeblieben. »Der Herr Kreisleiter läßt herzlich grüßen.»
»Grüßen Sie ihn bitte auch. Sagen Sie ihm, ich käme morgen wieder. Und vielen Dank für die Flasche. Ich kann sie gut gebrauchen.« Die Frau lächelte mütterlich. »Er wird sich darüber freuen. Er ist so ein guter Mensch.« Graeber ging durch den Garten zurück. Ein guter Mensch, dachte er. Aber war Alfons das auch für den Mathematiklehrer Burmeister gewesen, den er ins KZ gebracht hatte? Jeder war wahrscheinlich für irgend jemand ein guter Mensch. Und für einen andern das Gegenteil.
Er fühlte nach dem Brief und der Flasche. Feiern, dachte er. Was? Die Hoffnung, daß seine Eltern nicht tot waren? Und mit wem? Mit der Stube achtundvierzig in der Kaserne? Er blickte in die Dämmerung, die blauer und tiefer geworden war. Er
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konnte die Flasche zu Elisabeth Kruse bringen. Sie konnte sie ebensogut gebrauchen wie er. Er hatte für sich selbst ja noch den Armagnac.
Die Frau mit dem verwischten Gesicht öffnete. »Ich möchte zu Fräulein Kruse«, sagte Graeber entschlossen und wollte an ihr vorbei.
Sie gab die Tür nicht frei. »Fräulein Kruse ist nicht da«, erwiderte sie. »Das sollten Sie doch wissen.»
»Wieso sollte ich das wissen?» »Hat sie Ihnen das nicht gesagt?»
»Ich habe es vergessen. Wann kommt sie zurück?»
»Um sieben.« Graeber hatte nicht damit gerechnet, daß Elisabeth fort sein würde. Er überlegte, ob er den Wodka da lassen sollte; aber wer wußte, was die Denunziantin daraus machen würde? Vielleicht würde sie ihn sogar selbst trinken. »Gut, ich komme dann wieder«, sagte er.
Unschlüssig stand er auf der Straße. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Der Abend lag wieder lang und dunkel vor ihm. »Vergiß nicht, daß du Urlaub hast«, hatte Reuter gesagt. Er vergaß es nicht; aber damit allein war noch nichts erreicht. Er ging zum Karlsplatz und setzte sich auf eine Bank in den Anlagen. Der Luftschutzbunker lag massig, wie eine ungeheure Kröte, da. Leute, die vorsichtig waren, schlichen schattenhaft hinein. Dunkelheit spülte aus den Gebüschen heran und ertränkte das letzte Licht.
Graeber saß still auf der Bank. Er hatte vor einer Stunde nicht daran gedacht, Elisabeth wiederzusehen. Hätte er sie getroffen,
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so hätte er ihr wahrscheinlich den Wodka gegeben und wäre weggegangen. Aber jetzt, da er sie nicht getroffen hatte, wartete er ungeduldig darauf, daß es sieben Uhr würde. Elisabeth öffnete ihm selbst. »Auf dich war ich nicht vorbereitet«, sagte er überrascht. »Ich habe den Drachen erwartet, der den Eingang verteidigt.»
»Frau Lieser ist nicht da. Sie ist zu einer Versammlung der Frauenschaft gegangen.»
»Zur Plattfußbrigade. Natürlich! Dahin gehört sie auch!« Graeber sah sich um. »Es sieht hier gleich anders aus, wenn sie nicht da ist.»
»Es sieht hier anders aus, weil jetzt im Vorzimmer Licht brennt«, erwiderte Elisabeth. »Ich drehe es jedesmal an, wenn sie weggeht.»
»Und wenn sie da ist?»
»Wenn sie da ist, wird gespart. Das ist patriotisch. Man sitzt im Dunkeln.»
»Das stimmt«, sagte Graeber. »Da haben sie uns am liebsten.« Er zog die Flasche aus der Tasche. »Ich habe dir hier etwas Wodka mitgebracht. Er stammt aus dem Keller eines Kreisleiters. Geschenk eines Schulkameraden.« Elisabeth sah ihn an. »Hast du solche Schulkameraden?»
»Ja. Ebenso wie du Zwangsmieter.« Sie lächelte und nahm die Flasche. »Ich muß sehen, ob irgendwo ein Korkenzieher ist.« Sie ging vor ihm her in die Küche. Er sah, daß sie einen schwarzen Pullover und einen engen schwarzen Rock trug. Ihr Haar hatte sie mit einem dicken leuchtendroten Wollfaden im Nacken
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zusammengebunden. Sie hatte gerade, kräftige Schultern und schmale Hüften.
»Ich finde keinen Korkenzieher«, sagte sie und schob die Schubladen zu. »Frau Lieser scheint nicht zu trinken.»
»Sie sieht aus, als ob sie nichts anderes täte. Aber wir brauchen keinen Korkenzieher.« Graeber nahm die Flasche, klopfte den Lack am Halse ab und schlug sie mit einem scharfen Schlag zweimal gegen seinen Oberschenkel. Der Kork sprang heraus. »So macht man das beim Militär«, erklärte er. »Hast du Gläser? Oder sollen wir aus der Flasche trinken?»
»Ich habe Gläser in meinem Zimmer. Komm!« Graeber folgte ihr. Er war plötzlich froh, daß er gekommen war. Er hatte schon befürchtet, wieder einen Abend allein herumsitzen zu müssen.
Elisabeth nahm zwei dünne Weingläser von einem Regal mit Büchern, das an der Wand stand. Graeber blickte sich um. Er kannte das Zimmer nicht wieder. Es hatte ein Bett, ein paar Sessel mit grünen Bezügen, die Bücher, einen Schreibtisch im Biedermeierstil und wirkte altmodisch und friedlich. Er hatte es unordentlicher und wilder im Gedächtnis. Es muß der Lärm der Sirenen gewesen sein, dachte er. Lärm verwirrte alles. Auch Elisabeth sah heute anders aus als damals. Anders, aber nicht altmodisch und nicht friedlich.
Sie drehte sich um. »Wie lange ist es eigentlich her, daß wir uns nicht gesehen haben?»
»Hundert Jahre. Damals waren wir Kinder, und es war kein Krieg.»
»Und jetzt?»
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»Jetzt sind wir alt, ohne die Erfahrung des Alters. Alt und zynisch und ohne Glauben und manchmal traurig. Nicht oft traurig.« Sie sah ihn an. »Ist das wahr?»
»Nein. Aber was ist wahr? Weißt du es?« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Muß eigentlich immer etwas wahr sein?« fragte sie dann. »Wahrscheinlich nicht. Warum?»
»Ich weiß es nicht. Aber vielleicht hätten wir weniger Kriege, wenn jeder den andern nicht immer so dringend von seiner eigenen Wahrheit überzeugen wollte.« Graeber lächelte. Es hörte sich sonderbar an, wie sie das sagte. »Toleranz«, sagte er. »Das ist es, was fehlt, wie?« Elisabeth nickte. Er nahm die Gläser und goß sie voll. »Darauf wollen wir trinken. Der Kreisleiter, der mir die Flasche hier gegeben hat, hat das sicher nicht beabsichtigt. Aber gerade deshalb.« Er trank sein Glas aus. »Willst du noch einen?« fragte er. Elisabeth schüttelte sich kurz. »Ja«, sagte sie dann. Er schenkte ein und stellte die Flasche auf den Tisch. Der Wodka war scharf und klar und rein. Elisabeth setzte ihr Glas nieder. »Komm«, sagte sie. »Ich zeige dir ein Muster von Toleranz.« Sie führte ihn durch das Vorzimmer und stieß eine Tür auf. »Frau Lieser hat in der Eile vergessen, abzuschließen. Sieh dir das Zimmer an. Es ist kein Vertrauensbruch. Sie durchsucht meines fortwährend, wenn ich weg bin.« Ein Teil des Zimmers war normal möbliert. Aber an der Wand, dem Fenster gegenüber, hing in einem mächtigen Rahmen ein großes, farbiges Bild Hitlers,umrahmtvonTannengrünundKränzenvonEichenlaub. Auf dem Tisch darunter, auf einer großen Hakenkreuzflagge, lag, in schwarzes Leder gebunden, mit eingepreßtem goldenem Hakenkreuz, eine Luxusausgabe von »Mein Kampf«. Zu beiden
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Seiten standen silberne Leuchter mit Kerzen und neben ihnen Photographien des Führers — eine mit einem Schäferhund in Berchtesgaden und eine mit einem weißgekleideten Kinde, das ihm Blumen überreichte. Ehrendolche und Parteiabzeichen machten den Abschluß.
Graeber war nicht übermäßig überrascht. Er hatte Ähnliches schon öfter gesehen. Diktatorenkult wurde leicht zu Religion. »Schreibt sie hier ihre Denunziationen?« fragte er. »Nein, die schreibt sie drüben, am Schreibtisch meines Vaters.« Graeber sah den Schreibtisch an. Es war ein altmodisches Möbel mit einem Aufbau und einem Rolldeckel. »Er ist dauernd verschlossen«, sagte Elisabeth. »Man kann nicht heran.»
»Hat sie deinen Vater denunziert?»
»Das weiß ich nicht bestimmt. Man hat ihn abgeholt, und ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Sie wohnte damals schon hier mit ihrem Kind. Sie hatte nur ein Zimmer. Als mein Vater abgeholt wurde, bekam sie die beiden, die ihm gehörten, dazu.« Graeber drehte sich um. »Du meinst, daß sie es deswegen getan haben könnte?»
»Warum nicht? Manchmal braucht man noch weniger Gründe.»
»Das schon. Aber dieser Altar hier sieht aus, als wäre die Frau eine dieser Fanatikerinnen der Plattfußbrigade.»
»Ernst«, sagte Elisabeth bitter. »Glaubst du wirklich, daß Fanatismus nie mit persönlichem Vorteil Hand in Hand gehen kann?»
»Doch. Sogar oft. Sonderbar, daß man das immer wieder
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vergißt! Es gibt Plattheiten, die man irgendwann einmal gelernt hat und stets gedankenlos wiederholt. Die Welt ist nicht in etikettierte Fächer eingeteilt. Und der Mensch schon gar nicht. Wahrscheinlich liebt diese Giftschlange hier ihr Kind, ihren Mann, Blumen und alles Edle im Dasein. Wußte sie etwas, um deinen Vater zu denunzieren, oder hat sie alles erfunden?»
»Mein Vater war gutmütig und unvorsichtig und wohl schon lange verdächtig. Nicht jeder kann schweigen, wenn er den ganzen Tag Parteireden in seiner eigenen Wohnung hört.»
»Weißt du, was er gesagt haben kann?« Elisabeth hob die Schultern. »Er glaubte nicht mehr, daß Deutschland den Krieg gewinnen würde.»
»Das glauben viele nicht mehr.» »Du auch nicht?»
»Ich auch nicht. Und nun komm hier heraus! Sonst überrascht der Satan dich noch; wer weiß, was sie dann tut!« Elisabeth lächelte rasch. »Sie überrascht uns nicht. Ich habe die Korridortür abgeriegelt. Sie kann nicht herein.« Sie ging zur Tür und schob den Riegel zurück. Gott sei Dank, dachte Graeber. Wenn sie schon eine Märtyrerin ist, dann ist sie wenigstens eine mit Vorsicht und wenig Skrupeln. »Es riecht hier wie auf dem Friedhof«, sagte er. »Das muß das verdammte welke Eichenlaub sein. Komm, laß uns etwas trinken.« Er goß die Gläser voll. »Ich weiß jetzt, warum wir uns alt fühlen«, sagte er. »Weil wir zuviel Dreck gesehen haben. Dreck, aufgeführt von Leuten, die älter sind als wir, und die vernünftiger sein sollten.»
»Ich fühle mich nicht alt«, erwiderte Elisabeth.
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Er sah sie an. Sie sah alles andere als alt aus. »Sei froh«, er» widerte er.
»Ich fühle mich eingesperrt«, sagte sie. »Das ist schlimmer als alt.« Graeber setzte sich in einen der Biedermeiersessel. »Wer weiß, ob dich das Weib nicht auch noch denunziert«, sagte er. »Vielleicht will sie die ganze Wohnung für sich haben. Wozu willst du darauf warten? Zieh hier aus! Recht gibt es für dich nicht, das weißt du doch.»
»Ja, das weiß ich.« Elisabeth wirkte plötzlich störrisch und hilflos. »Es ist wie ein Aberglaube«, erwiderte sie gequält und hastig, wie jemand, der sich selbst schon hundertmal dieselbe Antwort gegeben hat. »Solange ich hier bin, glaube ich, daß mein Vater wiederkommt. Wenn ich weggehe, ist es, als verließe ich ihn. Verstehst du das?»
»Man braucht es nicht zu verstehen. Man tut es. Fertig. Auch wenn es widersinnig ist.»
»Gut.« Sie nahm ihr Glas und trank es aus. Draußen rasselte ein Schlüssel. »Da ist sie«, sagte Graeber. »Das war aber knapp. Die Versammlung scheint nicht lange gedauert zu haben.« Sie horchten auf die Schritte im Vorzimmer. Graeber blickte auf das Grammophon. »Hast du nur Märsche?« fragte er.
»Nein. Aber Märsche sind laut. Und manchmal, wenn die Stille schreit, muß man sie durch das Lauteste übertönen, was man hat.« Graeber sah sie an. »Schöne Gespräche führen wir! In der Schule hat man uns oft erzählt, die Jugend sei die romantische Zeit des Lebens.« Elisabeth lachte. Im Vorzimmer fiel etwas zu Boden. Frau Lieser schimpfte. Dann klappte die Tür. »Ich habe
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das Licht brennen lassen«, flüsterte Elisabeth. »Komm, laß uns weggehen. Ich halte es manchmal doch nicht mehr aus. Und laß uns über etwas anderes reden.»
»Wohin?« fragte Graeber draußen. »Ich weiß nicht. Irgendwohin.»
»Gibt es in der Nähe ein Café, eine Kneipe oder eine Bar?» »Ich will nicht gleich wieder in einen Raum. Laß uns einfach
etwas gehen.»
»Gut.« Die Straßen waren leer, und die Stadt war dunkel und still. Sie gingen die Marienstraße entlang, über den Karlsplatz und dann über den Fluß in die Altstadt. Nach einer Weile wurde es unwirklich, als wäre alles Leben erstorben und sie wären die letzten Menschen. Sie gingen zwischen Häusern mit Wohnungen, aber wenn sie im Vorübergehen in die Fenster blickten, um Zimmer zu sehen, Stühle, Tische, Zeugen von Leben, so sahen sie nichts als das Spiegeln des Mondlichts in den Scheiben und dahinter die schwarzen Vorhänge oder die schwarzen Papierrahmen der Verdunkelung. Es war, als läge die ganze Stadt in Trauer, eine endlose Morgue, schwarz verhüllt, mit eingesargten Wohnungen, eine einzige Leichenwache. »Was ist nur los?« fragte Graeber. »Wo sind die Leute? Es ist ja heute noch stiller als sonst.»
»Sie sitzen wahrscheinlich in ihren Wohnungen. Wir haben ein paar Tage keinen Angriff gehabt. Da trauen sie sich nicht mehr hinaus. Sie warten auf den nächsten Angriff. Das ist immer so. Nur kurz nach einem Angriff sind mehr Leute draußen.»
»Es gibt auch da schon Gewohnheiten, was?»
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»Ja. Bei euch draußen nicht?»
»Doch.« Sie kamen durch eine Straße, die in Trümmern lag. Faserige Wolken zogen über den Himmel und gaben ein wehendes Licht. In den Ruinen zuckten die Schatten wie mondscheue Kraken vor und zurück. Dann hörten sie Porzellan klappern. »Gottlob!« sagte Graeber. »Da essen Leute. Oder sie trinken Kaffee. Sie sind zumindest am Leben.»
»Sie trinken wahrscheinlich Kaffee. Es hat heute welchen gegeben. Guten sogar. Bombenkaffee.»
»Bombenkaffee?»
»Ja, Bombenkaffee oder Trümmerkaffee. So wird er genannt. Es ist die Extrazulage, die es nach schweren Bombenangriffen gibt. Manchmal ist es auch Zucker oder Schokolade oder ein Paket Zigaretten.»
»Das ist wie im Felde. Da gibt es Schnaps oder Tabak vor Offensiven. Eigentlich lächerlich, was? Zweihundert Gramm Kaffee für eine Stunde Todesangst.»
»Hundert Gramm.« Sie gingen weiter. Nach einer Weile blieb Graeber stehen. »Elisabeth, dies ist noch trostloser, als zu Hause zu sitzen. Wir hätten den Wodka mitnehmen sollen! Ich brauche einen Schnaps. Du auch. Wo gibt es hier ein Lokal?»
»Ich will in kein Lokal. Man ist da ebenso eingeschlossen wie in einem Keller. Alles ist verdunkelt, und alle Fenster sind abgeblendet!»
»Dann laß uns zur Kaserne hinaufgehen. Ich habe da noch eine Flasche. Ich hole sie herunter, und wir können sie im Freien trinken.»
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