
Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben
.pdfauf der Fensterbank und rochen unendlich süß, und alles war mit einem Atemzug darin — Sicherheit, Heimat, Erwartung und die vergessenen Träume der Jugend —, es war sehr stark, und es kam rasch wie ein Überfall und verging gleich wieder, aber es ließ ihn so verwirrt und erschöpft zurück, als wäre er mit vollem Gepäck durch tiefen Schnee gelaufen.
Er stand auf. »Wo willst du hin?« fragte Böttcher. »Ich weiß nicht. Irgendwohin.»
»Warst du bei der Kommandantur?»
»Ja. Ich habe eine Überweisung zur Kaserne.»
»Gut. Sieh zu, daß du auf Stube achtundvierzig kommst.» »Ja.« Böttchers Augen folgten träge der Wirtin. »Ich bleibe
noch etwas sitzen. Trinke noch ein Bier.« Graeber ging langsam die Straße hinauf zur Kaserne. Die Nacht war kalt geworden. An einer Kreuzung ragten Straßenbahngeleise glitzernd über einem Bombenkrater empor. In den Öffnungen der Haustüren lag das Mondlicht wie Metall. Er hörte seine Schritte hallen, als ginge unter der Straße jemand mit. Alles war leer und klar und kalt.
Die Kaserne lag auf einer Anhöhe am Rande der Stadt. Sie war unbeschädigt. Der Exerzierplatz war voll von weißem Licht, als läge Schnee. Graeber ging durch das Tor. Er hatte das Gefühl, daß sein Urlaub schon zu Ende wäre. Das Früher war hinter ihm zusammengestürzt wie das Haus seiner Eltern, und er ging wieder an die Front — an eine andere dieses Mal, ohne Geschütze und Gewehre, aber mit nicht weniger Gefahr.
131
10Es war drei Tage später. Am Tisch der Stube achtundvierzig spielten vier Mann Skat. Sie spielten seit zwei Tagen, nur von Schlaf und Mahlzeiten
unterbrochen. Drei der Spieler wechselten mit anderen ab; der vierte spielte ohne Ablösung durch. Er hieß Rummel und war vor drei Tagen auf Urlaub gekommen — gerade rechtzeitig, um seine Frau und seine Tochter zu begraben. Die Frau hatte er an einem Muttermal an der Hüfte erkannt; sie hatte keinen Kopf mehr gehabt. Nach dem Begräbnis war er in die Kaserne gegangen und hatte angefangen, Skat zu spielen. Er redete mit niemand. Unbewegt saß er da und spielte. Graeber hockte am Fenster. Neben ihm saß der Gefreite Reuter, eine Flasch Bier in der Hand und den bandagierten rechten Fuß auf der Fensterbank. Er war der Stubenälteste und hatte Gicht. Stube achtundvierzig war nicht nur ein Hafen für verunglückte Urlauber; sie war auch das Revier für Leichtkranke. Hinter ihnen lag der Pionier Feldmann. Sein Ehrgeiz war, den Schlaf für drei Kriegsjähre in drei Wochen nachzuholen. Er verließ das Bett nur zu den Mahlzeiten.
»Wo ist Böttcher?« fragte Graeber. »Noch immer nicht zurück?»
»Er ist nach Haste und Iburg. Jemand hat ihm heute mittag ein Fahrrad geliehen. Damit kann er jetzt zwei Dörfer an einem Tage absuchen. Aber er hat immer noch ein Dutzend vor sich. Und dann die Lager, in die überall Transporte geschickt worden sind. Die sind Hunderte von Kilometern weit weg. Wie will er dahin kommen?»
»Ich habe an vier Lager geschrieben«, sagte Graeber. »Für beide von uns.»
132
»Glaubst du, daß ihr Antwort kriegt?»
»Nein. Aber das hat ja nichts damit zu tun. Man schreibt trotzdem.»
»An wen hast du geschrieben?»
»An die Lagerleitung, und dann für jedes Lager noch einmal direkt an Böttchers Frau und an meine Eltern.« Graeber holte einen Pack Briefe aus seiner Tasche und zeigte sie vor. »Ich bringe sie gleich zur Post.« Reuter nickte. »Wo warst du heute?» »In der Bürgerschule und in der Turnhalle der Domschule. Dann in einem Sammelquartier und noch einmal auf dem Meldeamt. Nichts.« Ein Kartenspieler, der abgelöst worden war, setzte sich zu ihnen. »Ich verstehe nicht, daß ihr Urlauber in der Kaserne wohnt«, sagte er zu Graeber. »So weit weg von den Preußen wie möglich, das wäre meine Parole! Ich würde mir eine Bude mieten, Zivil anziehen und vierzehn Tage ein Mensch
sein.»
»Wird man ein Mensch, wenn man Zivil anzieht?« fragte Reuter. »Klar. Was sonst?»
»Da hörst du es«, sagte Reuter zu Graeber. »Das Leben ist einfach, wenn man es einfach nimmt. Hast du Zivilsachen hier?»
»Nein. Sie liegen unter dem Schutt der Hakenstraße.»
»Ich kann dir welche leihen, wenn du sie haben willst.« Graeber blickte durch das Fenster auf den Kasernenhof. Ein paar Züge übten dort Laden und Sichern, Handgranatenwerfen und Grüßen. »Es ist zu blödsinnig«, sagte er. »Draußen habe ich geglaubt, ich würde als erstes diese verdammten Brocken in die Ecke schmeißen, wenn ich nach Hause käme, und Zivil
133
anziehen — und jetzt ist es mir egal.»
»Du bist eben ein ganz gewöhnlicher Kasernenscheißer«, erklärte der Kartenspieler und verschlang ein Stück Leberwurst. »Ein Muschkote, der nicht weiß, was gut für ihn ist. Zu dumm, daß immer die falschen Leute Urlaub kriegen!« Er ging zurück, um weiterzuspielen. Er hatte vier Mark an Rummel verloren und war morgens vom Revierarzt k. v. geschrieben worden; das machte ihn bitter.
Graeber stand auf. »Wo willst du hin?« fragte Reuter. »In die Stadt. Zur Post und dann weitersuchen.« Reuter stellte die leere Bierflasche beiseite. »Vergiß nicht, daß du Urlaub hast. Und vergiß nicht, daß er bald vorbei ist.»
»Das vergesse ich schon nicht«, erwiderte Graeber bitter. Reuter hob seinen eingewickelten Fuß vorsichtig von der Fensterbank und setzte ihn vor sich hin. »So meine ich das nicht. Tu alles, was du kannst, um deine Eltern zu finden. Aber vergiß nicht, daß du Urlaub hast. Es kann immer der letzte sein.»
»Das weiß ich. Und es wird vorher einen Haufen Gelegenheit geben, den Arsch für immer zuzukneifen. Das weiß ich auch.» »Gut«,sagteReuter.»Wenndudasweißt,istallesinOrdnung.« Graeber ging zur Tür. Am Tisch mit den Kartenspielern hatte Rummel gerade einen Grand mit vieren in der Hand; dazu die ganze Kreuzflöte. Es war ein Blatt mit Pauken und Trompeten. Er schlachtete mit unbeweglichem Gesicht seine Mitspieler ab. Sie kriegten kein Bein auf die Erde. »Schneider schwarz«, sagte der Mann, der Graeber einen Kasernenscheißer genannt hatte, verzweifelt. »Was sagt man zu so einer Hand! Und es freut ihn
134
nicht einmal!»
»Ernst!« Graeber drehte sich um. Ein kleiner, gedrungener Mann in Kreisleiteruniform stand vor ihm. Er mußte sich einen Augenblick besinnen; dann erkannte er das runde Gesicht mit den roten Backen und den Haselnußaugen. »Binding«, sagte er. »Alfons Binding!»
»Höchstpersönlich.« Binding strahlte ihn an. »Mensch, Ernst, wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Wo kommst du her?»
»Aus Rußland.»
»AufUrlaubalso!Dasmüssenwirfeiern.Kommmitzumeiner Bude. Ich wohne nicht weit von hier. Habe einen erstklassigen Kognak! So was! Einen alten Schulkameraden wiederzutreffen, der gerade von der Front kommt! Das muß begossen werden!« Graeber sah ihn an. Binding war ein paar Jahre in seiner Klasse gewesen, aber er hatte ihn fast vergessen. Nur gelegentlich hatte er gehört, daß Alfons in die Partei eingetreten sei und es dort zu etwas gebracht habe. Jetzt stand er vor ihm, fröhlich und ahnungslos. »Komm, Ernst!« drängte er. »Sei kein Frosch!« Graeber schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit.»
»AberErnst!NurfüreinenMännertrunk!DafüristimmerZeit unter alten Kameraden!« Alte Kameraden! Graeber betrachtete die Uniform. Binding hatte sich hochgearbeitet. Aber vielleicht konnte gerade er ihm deshalb helfen, seine Eltern zu finden, dachte er plötzlich. Gerade, weil er ein Parteibonze war. »Gut, Alfons«, sagte er. »Auf einen Schnaps.»
»Das ist recht, Ernst. Komm, es ist nicht weit.« Es war
135
weiter, als Binding behauptet hatte. Er wohnte in der Vorstadt, in einer kleinen weißen Villa, die friedlich und unbeschädigt in einem Garten mit hohen Birken lag. Vogelkästen hingen an den Bäumen, und irgendwo plätscherte Wasser. Binding ging Graeber voran in das Haus. Auf dem Korridor hingen Hirschgeweihe, ein Wildschweinschädel und der ausgestopfte Kopf eines Bären. Graeber sah sie verwundert an. »Bist du ein so großer Jäger, Alfons?« Binding grinste. »Keine Spur. Habe nie eine Flinte angerührt. Alles Dekoration. Macht sich gut, was? Germanisch!« Er führte Graeber in ein Zimmer, das voll von Teppichen lag. An den Wänden hingen Bilder in prunkvollen Rahmen. Große Ledersessel standen umher. »Was sagst du zu der Bude?« fragte er stolz. »Gemütlich, was?« Graeber nickte. Die Partei sorgte für ihre Leute. Alfons war der Sohn eines armen Milchhändlers gewesen. Es hatte den Vater Mühe gekostet, ihn aufs Gymnasium zu schicken. »Setz dich, Ernst. Wie gefällt dir mein Rubens?»
»Was?»
»Der Rubens! Der große Schinken drüben, neben dem Klavier!« Es war das Bild einer sehr üppigen, nackten Frau, die am Rande eines Teiches stand. Sie hatte goldenes Haar und einen mächtigen Hintern, auf den die Sonne schien. Das wäre etwas für Böttcher, dachte Graeber. »Schön«, sagte er. »Schön?« Binding war ziemlich enttäuscht. »Mensch, der ist einfach herrlich! Vom selben Kunsthändler, von dem der Reichsmarschall kauft. Ein Meisterwerk! Ich habe ihn billig geschnappt, aus zweiter Hand. Gefällt er dir nicht?»
»Doch. Ich bin nur kein Kenner. Aber ich wüßte jemand, der
136
würde verrückt werden, wenn er das Bild sähe.» »Tatsächlich? Großer Sammler?»
»Das nicht; aber ein Spezialist in Rubens.« Binding glänzte vor Vergnügen. »Freut mich, Ernst! Freut mich wirklich. Hätte selber nie geglaubt, daß ich noch einmal Kunst sammler werden würde. Aber jetzt sag mir, wie es dir geht und was du machst. Und ob ich irgendwas für dich tun kann. Man hat ja so seine Verbindungen.« Er lachte verschmitzt.
Graeber war gegen seinen Willen etwas gerührt. Es war das erste Mal, daß ihm jemand ohne jede Vorsicht Hilfe anbot. »Du kannst etwas für mich tun«, sagte er. »Meine Eltern sind vermißt. Vielleicht sind sie abtransportiert oder irgendwo auf den Dörfern. Wie kann ich das herausfinden? Hier in der Stadt scheinen sie nicht mehr zu sein.« Binding setzte sich in einen Sessel neben einen Rauchtisch aus gehämmertem Kupfer. Seine blanken Stiefel standen wie Ofenrohre vor ihm. »Das ist nicht so einfach, wenn sie nicht mehr in der Stadt sind«, erklärte er. »Ich will sehen, was ich herausfinden kann. Wird ein paar Tage dauern. Vielleicht auch länger. Es kommt darauf an, wo sie sind. Alles ist im Augenblick ziemlich durcheinander, das weißt du ja.»
»Ja, das habe ich gesehen.« Binding stand auf und ging zu einem Schrank. Er holte eine Flasche und zwei Gläser hervor. »Trinken wir erst mal einen, Ernst. Echter Armagnac. Ich trinke ihn fast lieber als Kognak. Prost.»
»Prost, Alfons.« Binding schenkte nach. »Wo wohnst du denn jetzt? Bei Verwandten?»
137
»Wir haben keine Verwandten in der Stadt. In der Kaserne.« Binding setzte sein Glas nieder. »Aber Ernst, das ist doch Unsinn! Urlaub in der Kaserne! Das ist ja so gut wie keiner! Du kannst bei mir wohnen! Hier ist Platz genug! Schlafzimmer mit Badezimmer, sturmfrei, alles, was du willst!»
»Wohnst du denn hier allein?»
»Aber klar! Dachtest du, ich wäre verheiratet? So dumm bin ich nicht! In meiner Position rennen einem die Weiber ja die Türen ein. Ich sage dir, Ernst, auf den Knien haben sie schon vor mir gelegen.»
»Tatsächlich?»
»Auf den Knien! Erst gestern noch! Eine Dame erster Kreise, rote Haare, herrlicher Busen, Schleier, Pelzmantel, hier auf dem Teppich, sie heulte wie ein Springbrunnen und war zu allem bereit. Wollte, daß ich ihren Mann aus dem Konzentrationslager herausholen sollte.« Graeber sah auf. »Kannst du denn so was?« Binding lachte. »Ich kann jemand hineinbringen. Aber raus, das ist nicht so einfach. Habe ihr das natürlich nicht gesagt. Also wie ist es? Ziehst du ein? Du siehst, hier ist was los!»
»Ja, das sehe ich. Aber ich kann jetzt nicht umziehen. Ich habe überall die Kaserne als Adresse angegeben für Nachrichten über meine Eltern. Ich muß erst abwarten, bis sie kommen.»
»Schön, Ernst. Du mußt wissen, was richtig ist. Aber bedenke, daß du immer eine Wohnung bei Alfons hast. Und die Verpflegung ist erstklassig. Ich habe gut vorgesorgt.»
»Danke, Alfons.»
»Unsinn! Wir sind doch Schulkameraden. Da hilft man sich.
138
Du hast mich oft genug die Klassenarbeiten abschreiben lassen. Übrigens, erinnerst du dich noch an Burmeister?»
»Unseren Mathematiklehrer?»
»Genau den. Das Aas war doch schuld daran, daß ich in Obersekunda aus der Schule flog. Wegen der Sache mit Lucie Edler. Erinnerst du dich nicht mehr?»
»Natürlich«, sagte Graeber. Er erinnerte sich nicht. »Mensch, wie habe ich ihn damals angefleht, mich nicht zu melden! Nichts zu machen, der Satan war unerbittlich, moralische Pflicht, und was er sonst noch alles von sich gab. Mein Vater hat mich dafür dann fast totgeschlagen. Burmeister!« Alfons schmeckte den Namen auf der Zunge. »Dem habe ich es heimgezahlt, Ernst! Habe ihm ein halbes Jahr KZ besorgt. Du hättest ihn sehen sollen, als er herauskam! Er stand stramm vor mir und machte fast in die Hosen, wenn er mich sah. Er hat mich erzogen; da habe ich ihn mal gründlich zurückerzogen. Guter Witz, was?»
»Ja.« Alfons lachte. »So was tut einem in der Seele wohl. Das ist das Schöne an unserer Bewegung, daß sie einem solche Gelegenheiten gibt.« Er sah, daß Graeber aufstand. »Willst du schon los?»
»Ich muß. Ich habe keine richtige Ruhe.« Binding nickte. Sein Gesicht wurde würdig. »Ich verstehe, Ernst. Und es tut mir schrecklich leid. Das weißt du doch, nicht?»
»Ja, Alfons.« Graeber wußte, was jetzt noch fällig war, und er wollte es kurz machen. »Ich komme dann in ein paar Tagen wieder vorbei.»
»Komm morgen nachmittag. Oder gegen Abend. So gegen
139
halb sechs.»
»Gut, morgen. So gegen halb sechs. Glaubst du, daß du dann schon etwas weißt?»
»Vielleicht. Wir werden sehen. Auf jeden Fall können wir einen Schnaps trinken. Übrigens, Ernst — warst du schon in den Hospitälern?»
»Ja.« Binding nickte. »Und — nur zur Vorsicht natürlich — auf den Friedhöfen?»
»Nein.»
»Geh mal hin. Nur zur Vorsicht. Es liegen noch viele da, die nicht gemeldet sind.»
»Ich werde morgen hingehen.»
»Gut, Ernst.« Binding war sichtlich erleichtert. »Und komm morgen für länger. Wir alten Schulfreunde müssen zusammenhalten.
Du glaubst nicht, wie einsam man wird in einer Stellung wie meiner. Jeder will was von einem.»
»Ich habe ja auch was gewollt.»
»Das ist was anderes. Ich meine Vorteile.« Binding nahm die Flasche Armagnac, trieb mit einem Schlag der flachen Hand den Korken hinein und hielt sie Graeber hin. »Hier, Ernst! Nimm das mit! Es ist ein guter Schnaps. Du kannst ihn sicher brauchen. Warte noch einen Moment!« Er öffnete die Tür.
»Frau Kleinert! Ein Stück Papier! Oder eine Tüte!« Graeber hielt die Flasche in der Hand. »Das ist nicht nötig, Alfons —« Binding wehrte stürmisch ab. »Nimm ihn! Ich habe den ganzen Keller voll von dem Kram!« Er nahm die Tüte, die die
140