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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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08.06.2015
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Nächte lang penne ich nun schon in einer Bude mit zwölf Furzern von den Landesschützen — anstatt mit meiner Frau, die einen Arsch hat wie ein Brauereipferd!« Die ersten zwei Häuser der Gartenstraße waren zerstört. Niemand lebte mehr darin. Das dritte war noch fast heil. Nur das Dach war ausgebrannt; es war das Haus, in dem die Familie Ziegler wohnte. Ziegler war ein Freund von Graebers Vater gewesen. Er stieg die Stufen hinauf. Auf den Treppenabsätzen standen Eimer mit Sand und Wasser. An den Wänden klebten Bekanntmachungen. Er klingelte und wunderte sich, daß die Glocke noch funktionierte. Eine verhärmte alte Frau öffnete vorsichtig nach einer Weile.

»Frau Ziegler«, sagte Graeber. »Ich bin Ernst Graeber.»

»Ja, ja...« Die Frau starrte ihn an. »Ja...« Sie zögerte und sagte dann: »Kommen Sie doch herein, Herr Graeber.« Sie öffnete die Tür weiter und verriegelte sie wieder hinter ihm.

»Vater«, rief sie dann nach hinten. »Es ist nichts. Es ist Ernst Graeber. Der Sohn von Paul Graeber.« Das Wohnzimmer roch nach Bohnerwachs. Das Linoleum auf dem Boden war glatt wie ein Spiegel. Auf dem Fensterbrett standen Topfpflanzen mit gelbgefleckten großen Blättern, die wirkten, als wäre Butter daraufgetropft.EinWandschonerhinghinterdemSofa.»Eigener Herd ist Goldes wert« war in Kreuzstich rot darauf gestickt.

Ziegler erschien aus dem Schlafzimmer. Er lächelte. Graeber sah, daß er aufgeregt war. »Man weiß nie, wer kommt«, sagte er. »An Sie hätten wir bestimmt nicht gedacht. Kommen Sie von draußen?»

»Ja. Ich suche meine Eltern. Sie sind ausgebombt.»

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»Legen Sie doch Ihren Tornister ab«, sagte Frau Ziegler. »Ich mache Kaffee. Wir haben noch guten Malzkaffee.« Graeber trug seinen Tornister ins Vorzimmer. »Ich bin schmutzig«, sagte er. »Hier ist alles so sauber. Das ist man nicht mehr gewöhnt.»

»Das macht nichts. Setzen Sie sich nur hin. Da, aufs Sofa.« Frau Ziegler verschwand in der Küche. Ziegler sah Graeber unsicher an. »Tja...« sagte er.

»Haben Sie etwas von meinen Eltern gehört? Ich kann sie nicht finden. Auf dem Amt weiß man nichts. Da ist alles durcheinander.« Ziegler schüttelte den Kopf. Seine Frau stand wieder in der Tür. »Wir gehen gar nicht mehr raus«, sagte sie rasch. »Schon lange nicht. Wir hören kaum noch etwas, Ernst.»

»Haben Sie sie denn nie gesehen? Sie müssen sie doch irgendwann gesehen haben.»

»Das ist schon lange her. Mindestens fünf, sechs Monate. Damals...« Sie verstummte.

»Was war damals?« fragte Graeber. Wie waren sie damals?» »Gesund, oh, Ihre Eltern waren gesund«, erwiderte die Frau.

Nur inzwischen, natürlich...»

»Ja...« sagte Graeber. »Das habe ich gesehen. Wir haben draußen wohl gewußt, daß Städte zerbombt wurden; aber nicht, daß es so aussieht.« Die beiden antworteten nicht. Sie sahen ihn auch nicht an. »Der Kaffee ist gleich fertig«, sagte die Frau. »Sie trinken doch einen Schluck, wie? Eine Tasse heißer Kaffee ist immer gut.« Sie stellte blaugeblümte Tassen auf den Tisch. Graeber sah sie an. Zu Hause hatten sie dieselben gehabt. Zwiebelmuster hieß das Ornament aus irgendeinem Grunde.

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»Tja —« sagte Ziegler wieder.

»Glauben Sie, daß meine Eltern mit einem Transport weggeschickt sein können?« fragte Graeber.

»Vielleicht. Mutter, ist da nicht noch etwas von dem Keks, den Erwin mitgebracht hat? Hol ihn doch heraus für Herrn Graeber.»

»Was macht Erwin?»

»Erwin?« Der alte Mann schrak zusammen. »Erwin geht es gut. Gut.« Die Frau brachte den Kaffee. Sie stellte eine große Blechdose auf den Tisch. Die Aufschrift war holländisch. Es waren nicht mehr viele Kekse darin. Aus Holland, dachte Graeber. Genauso hatte er im Anfang Sachen aus Frankreich mitgebracht. Die Frau nötigte ihn. Er nahm ein Stück mit rosa Zuckerguß. Es schmeckte alt. Die beiden Alten nahmen nichts. Sie tranken auch keinen Kaffee. Ziegler klopfte abwesend auf die Tischplatte. »Nehmen Sie noch einen«, sagte die Frau. »Wir haben nichts anderes. Aber es ist guter Keks.»

»Ja, sehr gut. Danke. Ich habe vorhin schon gegessen.« Er spürte, daß er nichts mehr aus den beiden herausbekommen würde. Vielleicht wußten sie auch nichts. Er stand auf. »Können Sie mir sagen, wo ich sonst noch etwas erfahren könnte?»

»Wir wissen nichts. Wir gehen überhaupt nicht aus. Wir wissen nichts. Tut mir leid, Ernst. Es ist so.»

»Ich glaube es. Danke für den Kaffee.« Graeber ging zur Tür. »Wo wohnen Sie denn jetzt?« fragte Ziegler plötzlich. »Ich werde schon einen Platz finden. Wenn nicht anderswo, dann in der Kaserne.»

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»Wir haben keinen Platz«, sagte Frau Ziegler rasch und sah ihren Mann an. »Die Militärverwaltung hat ja sicher vorgesorgt für Urlauber, die ausgebombt sind.»

»Sicher«, erwiderte Graeber.

»Er könnte vielleicht seinen Tornister hierlassen, bis er was gefunden hat, Mutter«, sagte Ziegler. »Der ist doch schwer.« Graeber sah den Blick der Frau. »Es geht schon«, erwiderte er. »Daran ist man ja gewöhnt.« Er schloß die Tür und ging die Treppe hinunter. Die Luft roch dumpf. Die Zieglers hatten vor irgend etwas Angst. Er wußte nicht, wovor. Aber es gab ja so viele Möglichkeiten, Angst zu haben, seit 1933.

Die Familie Loose war im großen Saal des Harmonieklubs untergebracht. Der Raum war vollgestellt mit Feldbetten und Matratzen. An den Wänden hingen ein paar Fahnen, Hakenkreuzdekorationen mit markigen Sprüchen und ein Ölbild des Führers in breitem Goldrahmen — Reste früherer patriotischer Feiern. Der Saal wimmelte von Frauen und Kindern. Zwischen den Betten standen Koffer, Töpfe, Kocher, Vorräte und einzelne Möbel, die gerettet worden waren.

Frau Loose saß apathisch auf einem Bett in der Mitte des Saals. Sie war eine graue, dicke Person mit unordentlichem Haar. »Deine Eltern?« Sie sah Graeber mit glanzlosen Augen an und besann sich lange. »Tot, Ernst«, murmelte sie schließlich. »Was?»

»Tot«, wiederholte sie. »Was sonst?« Ein kleiner Junge in einer Uniform rannte gegen Graebers Knie. Er schob ihn weg. »Woher wissen Sie das?« fragte er. Er merkte, daß er keine Stimme mehr

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hatte, und schluckte hart. »Haben Sie sie gesehen? Wo?« Frau Loose schüttelte müde den Kopf. »Man konnte nichts sehen, Ernst«, murmelte sie. »Es war alles Feuer und das Schreien und dann...« Die Worte verloren sich zu einem Flüstern, und auch das hörte auf. Die Frau schwieg und blickte vor sich hin, die Arme aufgestützt, völlig abwesend und ohne sich zu rühren, als wäre sie allein im Saal. Graeber starrte sie an. »Frau Loose«, sagte er dann langsam und mit Mühe. »Besinnen Sie sich! Wann haben Sie meine Eltern gesehen? Woher wissen Sie, daß sie tot sind?« Die Frau sah ihn trübe an. »Lena ist auch tot«, murmelte sie. »Und August. Du hast sie doch gekannt —« Graeber erinnerte sich vage an zwei Kinder, die immerfort Honigbrote gegessen hatten. »Frau Loose«, wiederholte er und zwang sich, sie nicht hochzureißen und zu schütteln. »Bitte, sagen Sie mir, woher Sie wissen, daß meine Eltern tot sind! Versuchen Sie sich zu erinnern! Haben Sie sie gesehen?« Sie schien ihn nicht mehr zu hören. »Lena«, flüsterte sie. »Ich habe sie auch nicht gesehen. Sie wollten mich nicht zu ihr lassen, Ernst. Es war nicht mehr alles von ihr da. Und sie war doch so klein. Weshalb tun sie das nur? Du mußt es doch wissen, du bist doch Soldat.« Graeber sah sich verzweifelt um. Ein Mann schob sich zwischen den Betten heran. Es war Loose. Er war dünn und alt geworden. Behutsam legte er die Hand auf die Schulter seiner Frau, die wieder versunken in ihrer Trostlosigkeit auf dem Bett hockte, und machte Graeber ein Zeichen. »Mutter kann es noch nicht begreifen, Ernst,« sagte er.

Die Frau bewegte sich unter seiner Hand. Langsam sah sie auf. »Kannst du es begreifen?»

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»Lena...»

»Wenn du es nämlich begreifen kannst«, sagte sie plötzlich klar und laut und deutlich, als spräche sie in der Schule, »dann bist du nicht viel besser als die, die es getan haben.« Looses Augen glitten rasch und ängstlich über die Betten in der Nähe. Niemand hatte etwas gehört. Der Junge in der Uniform spielte mit ein paar Kindern lärmend zwischen den Koffern Verstecken.

»Nicht viel besser«, wiederholte die Frau. Dann ließ sie den Kopf sinken und war wieder nichts als ein kleiner Hügel tierhafter Trauer.

Loose winkte Graeber. Sie gingen beiseite »Was ist mit meinen Eltern passiert?« fragte Graeber. »Ihre Frau sagt, sie seien tot.« Loose schüttelte den Kopf. »Sie weiß nichts, Ernst. Sie glaubt, alle müßten tot sein, weil unsere Kinder tot sind. Sie ist nicht ganz... du hast es ja gesehen —« Er schluckte. Der Adamsapfel an seinem dünnen Halse stieg auf und ab. »Sie sagt Sachen — man hat uns schon deswegen angezeigt, — Leute von hier —« Graeber sah Loose einen Augenblick sehr klein und weit weg in einem schmutzigen, grauen Licht — dann war er wieder da und der Mann, den er kannte, und der Raum stand still. »Sie sind also nicht tot?« fragte er.

»Ich kann es dir nicht sagen, Ernst. Du weißt nicht, wie es im letzten Jahre hier war, als alles immer schlechter ging. Keiner hat dem andern mehr trauen können. Alle hatten Angst voreinander. Wahrscheinlich sind deine Eltern irgendwo in Sicherheit.« Graeber atmete ruhiger. »Haben Sie sie gesehen?« fragte er. »Einmal auf der Straße. Es muß aber schon vier, fünf Wochen her sein. Damals lag noch etwas Schnee. Es war vor

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den Angriffen.»

»Wie sahen sie aus? Waren sie gesund?« Loose antwortete nicht gleich. »Ja, ich glaube schon«, sagte er dann und schluckte.

Graeber schämte sich plötzlich. Er begriff, daß man in dieser Umgebung nicht fragte, ob ein Mensch vor vier Wochen gesund gewesen sei oder nicht — man fragte hier nach Überlebenden und Toten, und weiter nichts. »Verzeihen Sie«, sagte er verlegen. Loose wehrte ab. »Laß nur, Ernst. Heute kann jeder nur an sich selber denken. Es ist zuviel Unglück in der Welt —« Graeber trat auf die Straße. Sie war düster und tot gewesen, als er zum Harmonieklub gegangen war — jetzt erschien sie auf einmal heller, und das Leben in ihr war noch nicht erstorben. Er sah nicht mehr die zerstörten Häuser; er sah jetzt auch die treibenden Bäume, zwei spielende Hunde und den feuchten blauen Himmel. Seine Eltern waren nicht tot; sie waren nur vermißt. Vor einer Stunde, als der einarmige Beamte ihm das gesagt hatte, war es trostlos und fast unerträglich gewesen; jetzt hatte es sich rätselhaft in Hoffnung verwandelt. Er wußte, daß es nur so war, weil er einen Augenblick geglaubt hatte, daß seine Eltern nicht mehr lebten — aber was brauchte weniger Nahrung als Hoffnung?

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9Er blieb vor dem Hause stehen. Es war dunkel, und er konnte die Nummer nicht erkennen. »Wo wollen Sie hin?« fragte jemand, der neben der Tür lehnte.

»Ist dies Marienstraße zweiundzwanzig?» »Ja. Zu wem wollen Sie?»

»Zu Sanitätsrat Kruse.»

»Kruse? Was wollen Sie denn bei dem?« Graeber sah den Mann im Dunkel an. Er trug Stiefel und eine SA-Uniform. Ein wichtigtuerischer Blockwart, dachte er, das hat mir noch gefehlt. »Ich werde das Dr. Kruse schon selbst erklären«, sagte er und ging in das Haus.

Er war sehr müde. Es war eine Müdigkeit, die tiefer saß als nur in den Augen und in den Knochen. Er hatte den ganzen Tag gefragt und gesucht; aber er hatte wenig erfahren. Seine Eltern hatten keine Verwandten in der Stadt, und von den Nachbarn waren nicht mehr viele dagewesen. Böttcher hatte recht; es war wie verhext. Die Leute hatten Angst vor der Gestapo und schwiegen — oder aber sie wußten nur Gerüchte und wiesen einen an andere, die auch nichts wußten.

Er stieg die Treppe hinauf. Der Korridor war dunkel. Der Sanitätsrat wohnte im ersten Stock. Graeber kannte ihn kaum; abererwußte,daßerseineMutteröfterbehandelthatte.Vielleicht war sie bei ihm gewesen, und er hatte ihre neue Adresse. Eine ältere Frau mit einem verwischten Gesicht öffnete. »Kruse?« fragte sie. »Sie wollen zu Dr. Kruse?»

»Ja.« Die Frau musterte ihn schweigend. Sie trat nicht beiseite, um ihn einzulassen.

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»Ist er zu Hause?« fragte Graeber ungeduldig. Die Frau antwortete nicht. Sie schien nach unten zu horchen. »Kommen Sie für die Sprechstunde?« fragte sie dann. »Nein. Privat.»

»Privat?»

»Ja, privat. Sind Sie Frau Kruse?»

»Da sei Gott vor!« Graeber starrte die Frau an. Er hatte den Tag über allerlei an Vorsicht, Haß und Ausflüchten erfahren; aber dieses war neu. »Hören Sie«, sagte er. »Ich weiß nicht, was hier los ist, und es ist mir auch egal. Ich möchte mit Dr. Kruse sprechen, weiter nichts, verstehen Sie?»

»Kruse wohnt nicht mehr hier«, erklärte die Frau plötzlich laut und schroff und feindlich.

»Da steht aber sein Name.« Graeber zeigte auf ein Messingschild neben der Tür.

»Das Schild sollte längst nicht mehr da sein.»

»Es ist aber da. Wohnt noch jemand von der Familie hier?« Die Frau schwieg. Graeber hatte genug. Er wollte ihr gerade sagen, sie solle zum Teufel gehen, als er hörte, wie hinten in der Wohnung eine Tür geöffnet wurde. Ein Streifen Licht brach aus einem Zimmer schräg über den dunklen Vorplatz. »Ist jemand da für mich?« fragte eine Stimme.

»Ja«, sagte Graeber auf gut Glück. »Ich möchte jemand sprechen, der Sanitätsrat Kruse kennt. Es scheint nicht einfach zu sein.»

»Ich bin Elisabeth Kruse.« Graeber blickte die Frau mit dem verwischten Gesicht an. Sie gab die Tür frei und ging in die Wohnung zurück. »Zuviel Licht!« schnappte sie noch nach dem

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offenen Zimmer hin. »Es ist verboten, so viel Licht zu brennen!« Graeber blieb stehen. Ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren kam durch den Streifen Licht heran wie durch einen Fluß. Einen Augenblick sah er hochgewölbte Augenbrauen, dunkle Augen und mahagonifarbenes Haar, das in einer unruhigen Welle gegen die Schultern floß — dann tauchte sie in das Halbdunkel des Korridors und stand vor ihm.

»Mein Vater hat keine Praxis mehr«, sagte sie.

»Ich komme nicht, um behandelt zu werden. Ich komme um eine Auskunft.« Das Gesicht des Mädchens veränderte sich. Sie drehte sich halb um, als wollte sie nachsehen, ob die andere Frau noch da sei. Dann öffnete sie rasch die Tür ganz. »Kommen Sie herein«, flüsterte sie.

Er folgte ihr in das Zimmer, aus dem das Licht kam. Sie drehte sich um und sah ihn prüfend und dringend an. Ihre Augen waren jetzt nicht mehr dunkel; sie waren grau und sehr durchsichtig. »Ich kenne Sie doch«, sagte sie. »Waren Sie nicht früher auf dem Gymnasium?»

»Ja. Ich heiße Ernst Graeber.« Graeber erinnerte sich jetzt auch an sie. Sie war ein dünnes Mädchen mit zu großen Augen und zuviel Haar gewesen. Ihre Mutter war früh gestorben, und sie war dann zu Verwandten in eine andere Stadt gekommen. »Mein Gott, Elisabeth«, sagte er. »Ich habe dich nicht erkannt.»

»Es muß sieben, acht Jahre her sein, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Du hast dich sehr verändert.»

»Dudichauch.«Siestandensichgegenüber.»Wasisteigentlich hier los?« fragte Graeber. »Du wirst ja bewacht wie ein General.«

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