Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:
B.Schlink Der Vorleser / Vorleser.docx
Скачиваний:
48
Добавлен:
21.05.2015
Размер:
221.45 Кб
Скачать

Immerhin angenommen hatten, sie seien nur kurz weg,

etwa um Verwundete in ein Lazarett zu schaffen, und bald

wieder zurück?

Als die Verteidiger der anderen Angeklagten merkten,

daß solche Strategien an Hannas bereitwilligem Zugeben

scheiterten, stellten sie auf eine Strategie um, die das

bereitwillige Zugeben ausnutzte, Hanna be- und dadurch

die anderen Angeklagten entlastete. Die Verteidiger

taten es mit fachlicher Distanz. Die anderen Angeklagten

sekundierten mit empörten Einwürfen.

»Sie haben gesagt, Sie hätten gewußt, daß Sie die

Gefangenen in den Tod schicken – das gilt nur für Sie,

nicht wahr? Was Ihre Kolleginnen gewußt haben, können

Sie nicht wissen. Sie können es vielleicht vermuten, aber

letztlich nicht beurteilen, nicht wahr?«

Hanna wurde vom Anwalt einer anderen Angeklagten

befragt.

111

»Aber wir alle wußten…«

»›Wir‹, ›wir alle‹, zu sagen ist einfacher, als ›Ich‹ zu

sagen, ›ich allein‹, nicht wahr? Stimmt es, daß Sie, Sie

allein, im Lager Ihre Schützlinge hatten, junge Mädchen

jeweils, eines für eine Weile und dann für eine Weile ein

anderes?«

Hanna zögerte. »Ich glaube, daß ich nicht die einzige

war, die…«

»Du dreckige Lügnerin! Deine Lieblinge – das war

deines, deines allein!« Eine andere Angeklagte, eine

derbe Frau, nicht ohne gluckenhafte Behäbigkeit und

zugleich mit gehässigem Mundwerk, war sichtbar erregt.

»Könnte es sein, daß Sie ›wissen‹ sagen, wo Sie

allenfalls glauben können, und ›glauben‹, wo Sie einfach

erfinden?« Der Anwalt schüttelte den Kopf, als nehme

er ihre bejahende Antwort bekümmert zur Kenntnis.

»Stimmt es auch, daß alle Ihre Schützlinge, wenn Sie

ihrer überdrüssig waren, in den nächsten Transport nach

Auschwitz kamen?«

Hanna antwortete nicht.

»Das war Ihre spezielle, Ihre persönliche Selektion,

nicht wahr? Sie wollen sie nicht mehr wahrhaben, Sie

wollen sie verstecken hinter etwas, was alle gemacht

haben. Aber…«

»0 Gott!« Die Tochter, die sich nach ihrer Vernehmung

unter die Zuschauer gesetzt hatte, schlug die Hände

vors Gesicht. »Wie habe ich das vergessen können?«

Der Vorsitzende Richter fragte sie, ob sie ihre Aussage

ergänzen wolle. Sie wartete nicht, bis sie nach vorne

gerufen wurde. Sie stand auf und redete von ihrem Platz

unter den Zuschauern aus.

112

»Ja, sie hatte Lieblinge, immer eine von den jungen,

schwachen und zarten, und die nahm sie unter ihren

Schutz und sorgte, daß sie nicht arbeiten mußten, brachte

sie besser unter und versorgte und verköstigte sie besser,

und abends holte sie sie zu sich. Und die Mädchen

durften nicht sagen, was sie abends mit ihnen machte,

und wir dachten, daß sie mit ihnen… auch weil sie alle

in den Transport kamen, als hätte sie mit ihnen ihren

Spaß und sie dann sattgehabt. Aber so war es gar nicht,

und eines Tages hat doch eines geredet, und wir haben

gewußt, daß die Mädchen ihr vorgelesen haben, Abend

um Abend um Abend. Das war besser, als wenn sie… auch

besser, als wenn sie sich an dem Bau zu Tode gearbeitet

hätten, ich muß gedacht haben, daß es besser war, sonst

hätte ich es nicht vergessen können. Aber war es besser?«

Sie setzte sich.

Hanna drehte sich um und sah mich an. Ihr Blick fand

mich sofort, und so merkte ich, daß sie die ganze Zeit

gewußt hatte, daß ich da war. Sie sah mich einfach an.

Ihr Gesicht bat um nichts, warb um nichts, versicherte

oder versprach nichts. Es bot sich dar. Ich erkannte, wie

angespannt und erschöpft sie war. Sie hatte Ringe unter

den Augen, und in jeder Backe führte eine Falte von oben

nach unten, die ich nicht kannte, die noch nicht tief war,

sie aber schon wie eine Narbe zeichnete. Als ich unter

ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich

wieder der Gerichtsbank zu.

Der Vorsitzende Richter wollte von dem Anwalt, der

Hanna befragt hatte, wissen, ob er noch Fragen an

die Angeklagte habe. Er wollte es von Hannas Anwalt

wissen.

Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und

zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem

Bau ohnehin nicht verkrafteten, weil sie ohnehin mit dem

nächsten Transport nach Auschwitz kamen und weil sie

ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte. Sag’s,

Hanna. Sag, daß du ihnen den letzten Monat erträglich

machen wolltest. Daß das der Grund war, die Zarten und

Schwachen zu wählen. Daß es keinen anderen Grund gab,

keinen geben konnte.

Aber der Anwalt fragte Hanna nicht, und sie sprach

nicht von sich aus.

114 Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über

ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach

dem Prozeß. Während des Prozesses war das Manuskript

zwar schon vorhanden, aber nur den Prozeßbeteiligten

zugänglich. Ich mußte das Buch auf Englisch lesen, damals

ein ungewohntes und mühsames Unterfangen. Und wie

stets schaffte die fremde Sprache, die nicht beherrscht

und mit der gekämpft wird, ein eigentümliches Zugleich

von Distanz und Nähe. Man hat sich das Buch besonders

gründlich erarbeitet und doch nicht zu eigen gemacht. Es

bleibt so fremd, wie die Sprache fremd ist.

Jahre später habe ich es wiedergelesen und entdeckt,

daß das Buch selbst Distanz schafft. Es lädt nicht zur

Identifikation ein und macht niemanden sympathisch,

weder Mutter noch Tochter, noch die, mit denen beide in

verschiedenen Lagern und schließlich in Auschwitz und bei

Krakau das Schicksal geteilt haben. Die Barackenältesten,

Aufseherinnen und Wachmannschaften läßt es gar nicht

erst so viel Gesicht und Gestalt gewinnen, daß man sich

zu ihnen verhalten, sie besser oder schlechter finden

könnte. Es atmet die Betäubung, die ich schon zu be-

8

115

schreiben versucht habe. Aber das Vermögen, zu

registrieren und zu analysieren, hat die Tochter unter

der Betäubung nicht verloren. Und sie hat sich nicht

korrumpieren lassen, nicht durch Selbstmitleid und

nicht durch das Selbstbewußtsein, das sie spürbar daraus

gezogen hat, daß sie überlebt und die Jahre in den Lagern

nicht nur verkraftet, sondern literarisch gestaltet hat. Sie

schreibt über sich und ihr pubertäres, altkluges und, wenn

es sein muß, durchtriebenes Verhalten mit derselben

Nüchternheit, mit der sie alles andere beschreibt.

Hanna kommt im Buch weder mit Namen noch sonst

erkennbar und identifizierbar vor. Manchmal glaubte

Соседние файлы в папке B.Schlink Der Vorleser