3.Die „funktionalistischen“ Ansätze
3.1 Der Ansatz von A. Shtromas
Als erster funktionalistischer Ansatz wird das 197787 geschaffene theoretische Konstrukt von A. Shtromas betrachtet. Als wichtigste Grundannahme seines Ansatzes gilt die Festlegung des Dissenses als die mit dem offenen Widerstand oder Kampf nicht gleichzusetzende tief in den breiten Schichten der sowjetischen Bevölkerung verwurzelte Missachtung des sowjetischen Systems, die sich beiderseits der von Regime festgestellten und regulierenden Rahmen in zwei Arten des Dissenses widerspiegeln, und zwar im infrastrukturellen Dissens und extrastrukturellen Dissens88.
A. Shtromas geht davon aus, dass sich im infrastrukturellen Dissens die genuinen Motiven, Zwecke und Bestrebungen des Volkes immer im von der Regierung gestatteten Rahmen reflektieren und ihn dadurch nähren und schaffen89. Den extrastrukturellen Dissens soll man als die unabhängigen und abweichenden vom gestellten Rahmen Aktivitäten verstehen90. Diese Arten des Dissenses sind als die voneinander unabhängigen Erscheinungen nicht zu begreifen, da sie fest und untrennbar miteinander verbunden sind.
Der infrastrukturelle Dissens kann als die einzige Ausdrucksform oder das Ventil des potentiellen Dissenses der sowjetischen Gesellschaft definiert werden, unter dem man die ganze Menge der Unzufriedenheit und der Empörung der Gesellschaft versteht, deren ganze Ausmaß wegen des herrschenden Konsenses zwischen der Regierung und der Bevölkerung aber nicht festlegbar ist. Bis das Regime die Voraussetzungen dieses Konsenses berücksichtigt, bleibt der infrastrukturelle Dissens seine einzige Ausdrucksform und die Unruhen und die Aufstände der Chruščows-Zeiten haben wenige Chancen zustande zu kommen91.
Der extrastrukturelle Dissens soll als eine extrem seltene Abweichung und Ableitung vom infrastrukturellen Dissens bezeichnet werden und darf nicht als quasi mit dem infrastrukturellen Dissens gleichbedeutende Ausdrucksform des potentiellen Dissenses verstanden werden92.
A. Shtromas teilt den infrastrukturellen Dissens in zwei Typen bzw. in den negativen Dissens und in den positiven. Der negative infrastrukturelle Dissens lässt sich als die Ausnutzung des Sowjetsystems von der Bevölkerung für das Erlangen eigennütziger Zwecken definieren, was durch die Ersetzung der bolschewistischen Ideologie durch die „offiziell-patrimoniale“ Ideologie zustande kam und deren Hüter und Verfechter die oberste vereinte „Superbürokratie“ ist bzw. eine oberste Führungsspitze, die das ganze System zusammenhält und die letzte Entscheidung trifft. A. Shtromas zufolge übersehen die westlichen Forscher die Existenz dieser „Superbürokratie“ und verstehen das sowjetische System als die Vielzahl der bürokratischen Gruppen mit den konfligierenden Interessen. Diese „Superbürokratie“ muss den negativen infrastrukturellen Dissens als die soziale Sabotage und wirtschaftliche Delinquenz der fast gesamten sowjetischen Bevölkerung, die entweder selber Delinquenten oder deren Auftraggeber sind, tolerieren, da dieser tatsächlich das einzige Mittel der Befriedigung des Konsum- und Leistungshungers in der Sowjetunion ist und deren ernsthafte Beseitigung entweder den Übergang des potentiellen Dissens in die Unruhen und die Aufstände, oder den Abbau des ganzen Systems heißen würde. Aber andererseits setzt die Tolerierung des negativen Dissenses die subversive Einwirkung auf das ganze System voraus und verletzt die Integration und die Repräsentierung der sozialen Interessen durch den Staat.93
Der positive infrastrukturelle Dissens, der weniger offensichtlich als der negative ist und vielmehr nützlich für die Auslösung politischen Wandels gelten kann, ist auf die Verfolgung der konstruktiven politischen, sozialen und kulturellen Ziele gerichtet und dessen Vertreter ihre offiziellen Stellen und Kontakte für die Vorlegung und Verwirklichung der Verbesserungsvorschläge einzusetzen und auszunutzen versuchen. A. Shtromas bezeichnet denjenigen Professionellen oder Angestellten als einen positiven Dissidenten, der die Bedeutung der aus seiner Stelle hervorgehenden sozialen Aufgaben begreift und sich um deren Ausübung zu kümmern beginnt94. Diese Art des Dissenses ist verschiedenartig und setzt sich aus 4 Gruppen zusammen bzw. aus der technokratischen Intelligenz, den wenig die professionellen Interessen verfolgenden und sich auf die generellen Werte stützenden Zivildissidenten, nationalen und religiösen Dissidenten95.
Die technokratische Intelligenz geht von 4 Maximen aus, bzw. vom Vorrang der Effizienz, Qualität und Produktivität, dem Vorrang der nationalen Interessen bei Festlegung und der Aufbringung der politischen und sozialen Aufgaben und Kapazitäten, dem Vorrang der beruflichen Verantwortung, die die persönliche Initiative die Entscheidungsbefugnis impliziert und dem Vorrang der persönlichen Eigenschaften und Kenntnissen bei der Besetzung verschiedener Ämter96. A. Shtromas bezeichnet die Koexistenz zwischen dem Regime und der technokratischen Intelligenz als relativ friedlich, da das erste die soziallen und wirtschaftlichen Kapazitäten der letzten braucht, um das ganze System weiter durch die Ausnutzung der sozial billigen Innovationen zusammenhalten zu können. Als die Kehrseite dieses Zusammenhangs ist die der immer wachsende Einfluss der technokratischen Intelligenz auf das Regime festzustellen97.
Obwohl die sich Zivildissidenten auch an die Ideologie der wirtschaftlichen Effizienz und Leistungsfähigkeit der technokratischen Intelligenz halten, sind sie eher um die globalen Probleme der sowjetischen Gesellschaft und der Welt wie das politische und soziale System, kulturelle Entwicklung, die Informationsfreiheit, die Rechte des Individuums und der Gesellschaft, Ideologie, Weltordnung und der Platz der Sowjetunion in der besorgt. Sie nennen sich Sozialisten oder kritische Kommunisten und streben den liberalen Wandel des existierenden Systems an.98 A. Shtromas macht einen Unterschied zwischen den nicht-russischen und russischen Nationaldissidenten, die aber zum positiven Dissens gehören, indem die Bewahrung der nationalen und staatlichen Identität für sie das langfristige Ziel ist, bzw. der Kampf für die eigene Nation von A. Shtromas als ein Merkmal des positiven Dissenses wahrgenommen wird. Der Forscher schließt auch, dass jede die sich selbst nicht-russisch wahrnehmende Nation ein potentieller positiver kollektiver Dissident ist und sogar die meisten Vertreter des russischen nationalen Dissenses, für die das sowjetische Regime, sei es schlecht oder gut, die nationale Regierung ist, seine Abschaffung und Etablierung der adäquaten nationalen Staatlichkeit durch eine echte russische Regierung befürworten99. Und alle zu den allen in der Sowjetunion vertretenen Religionen gehörenden Gläubigen bezeichnet A. Shtromas als potentiellen Dissidenten, da jede Religion durch das Vorhandensein der alternativen Weltanschauung der kommunistischen Ideologie als gefährlicher Konkurrent gegenübersteht100.
Der die Toleranzgrenze des Regimes überschrittene und von ihm in die extrastrukturelle Position verdrängte ehemalige infrastrukturelle Dissens wird in die zwei Formen geteilt, und zwar in den offenen extrastrukturellen Dissens und den verborgenen, der durch die geheimen konspirativen Verschwörungsgruppen vertreten ist. Ausgehend von dieser Definition aus ist der extrastrukturelle Dissens die abweichende Form des infrastrukturellen, wodurch seine Vertreter gezwungen waren, extrastrukturelle Aktivitäten zu betreiben.101 So bezeichnet A. Shtromas A. Solženizyn und A. Sacharow als die typischen Vertreter des offenen extrastrukturellen Dissenses, die aber heftig allen Versuchen des Regimes widerstanden, sie aus ihren privilegierten Stellen bzw. aus dem Verband der sowjetischen Schriftsteller und dem Institut der Nuklearen Physik zu verdrängen, um die Möglichkeiten des Einflussausübung auf die Beschlussfassung zu bewahren102.
Obwohl es zwei Meinungen gibt, die die Einflussmöglichkeiten des offenen extrastrukturellen Dissenses für unwesentlich halten103, erkennt A. Shtromas seine Verdienste an, und zwar die ideologische Seite, indem die extrastrukturellen Dissidenten alles öffentlich ausdrücken, woran die sowjetischen Bürger schweigend denken und ihnen dadurch helfen, ihre politischen Haltungen, Ziele und Forderungen eher logisch, als emotionell zu formulieren; die Kommunikationsförderung, indem die Dissidenten der Bevölkerung den Zugang zur alternativen Informationen ermöglichen; das Beispiel der moralischen Stärke und die Repräsentation der ganzen sowjetischen Bevölkerung im Ausland, da die Außenwelt nur den extrastrukturellen Dissens bemerken und beobachten kann104.
Das Zusammenspiel zwischen dem infrastrukturellen Dissens und extrastrukturellen Dissens betrachtet A. Shtromas als eine einzige Möglichkeit den globalen politischen Wandel in der UdSSR zu betreiben und bezeichnet den Sturz N. Chruščows als ein einziges erfolgreiches Ergebnis dieses Zusammenspiels105.
Fasst man den Ansatz von A. Shtromas zusammen, dürfte man schließen, dass der Forscher die ähnlichen Gruppen der sowjetischen Dissidenten definiert, wie das bei den Vertretern der klassischen Ansätze der Fall war. Der Unterschied besteht darin, dass A. Shtromas sie auf die globaleren soziologisch bedingten Strukturen bezieht, die sich miteinander ungleichartig korrelieren, und darüber hinaus tritt auch die andere Korrelation zwischen diesen Gruppen in Erscheinung. Soziologisch bedingt sind diese Gruppen von verschiedener Bedeutung und führen unterschiedliche Funktionen aus.
3.2 Der Ansatz von W.D. Connor
In diesem Unterkapitel wird der Ansatz betrachtet, dessen Autor im Unterschied zu A. Shtromas den sowjetischen Dissens nicht nur als den soziologisch bedingten globalen Bestandteil der sowjetischen Gesellschaft wahrzunehmen tendiert, sondern auch ihn als Ergebnis der viel komplexerer und globalerer gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu erklären versucht.
Als Grundvoraussetzung seines Ansatzes bezeichnet W.D. Connor die Forschung und die Wahrnehmung des sowjetischen politischen Dissenses als eines Symptoms soziallökonomischen Wandels, der sich viel früher zu vollziehen begonnen hatte, als die Anfänge des politischen Dissenses noch nicht offensichtlich wurden. Dieser sozialökonomische Wandel kam zustande durch das Zusammenspiel der zwei globalen Transformationsprozesse, und zwar durch die strukturelle Differenzierung, als die Modernisierung die multifunktionalen Einheiten der traditionellen Gesellschaft abgelöst und sie durch die hoch differenzierten und spezialisierten Einheiten ersetzt hatte, und die soziale Integration, als sich die Notwendigkeit der Verschmelzung dieser hoch differenzierten uns spezialisierten Einheiten in eine moderne industrielle Nation erwies. Es musste die bestimmte Integrationsstrategie ausgewählt werden und die Auswahl eines oder anderen Varianten der Integrationsstrategie hing von drei Faktoren ab, und zwar vom Grad der Gesellschaftsdifferenzierung, vom Inhalt und er relativen Vitalität der vorherigen politischen Kultur und den Zwecken der Modernisierung selbst. 106
W.D. Connor geht davon aus, dass die russische Gesellschaft 1917 viel reifer als 30 Jahre zuvor und viele andere Gesellschaften Afrikas und Asiens nach dem Zweiten Weltkrieg war, aber auf der Grundlage von der engstirnigen obrigkeitsdenkenden politischen Kultur der Bevölkerung und der Zielsetzung der Bolschewiki, die Modernisierung in erster Linie für die Verteidigungszwecke einzusetzen und zu instrumentalisieren, kam das totalitäte Modell sozialer Integration in der UdSSR zustande. W. D. Connor geht davon aus, dass dieses Modell sowohl bis zum Tod J. Stalins, als auch, obwohl der Massenterror abgeschaffen worden war, nach seinem Tod unantastbar blieb, als gleichzeitig die sowjetische Gesellschaft ihre Reife erreichte107.
Der Widerspruch zwischen dem weiteren Bestehen der totalitären Integrationsstrategie und der erreichten Reife der Gesellschaft stellt in die Frage die weitere Anwendbarkeit der ersten108 und produziert den sowjetischen politischen Dissens, der also als Produkt und Symptom der tiefen strukturellen Modernisierung und die Erwiderung auf die Integrationsprobleme zustande kam109 oder sich als Ergebnis des Zusammenhangs zwischen der wachsenden Gesellschaftskomplexität und der politischen Rückständigkeit des Regimes definieren lässt110. W.D. Connor hebt auch hervor, dass sich der sowjetische politische Dissens durch die Spezifik dieser Integrationsprobleme in der UdSSR vom politischen Dissens im Westen gründlich unterscheidet111.
Das Übergewicht des Kommandos auf dem Kontrakt darf als der Bestandteil der sowjetischen Integrationsstrategie verstanden werden und die dadurch zustande kommende Beengtheit bringt zwei verschiedene aber miteinander verbundene Arte des Dissenses, und zwar den Dissens der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz und den Dissens der künstlerischen Intelligenz, der nationalen und der religiösen Minderheiten112. Die technische Intelligenz bekennt sich zum Effizienzgrundsatz, widersteht sich den Einmischungen der Bürokratie in den Wirtschaftsbereich und fordert nach größerer Mitbestimmung. Im Unterschied zu den zum positiven infrastrukturellen Dissens gehörenden Technokraten von A. Shtromas zieht W.D. Connor die Trennungslinie zwischen der technischen Intelligenz und den Managern, die seiner Meinung nach zum Parteiapparat zu nah sind und bei einem westorientierten grundlegenden Wandel uneffektiv werden würden. Darüber hinaus sind sie an der Stabilität des Systems interessiert. Der technischen Intelligenz, der W.D. Connor auch A. Sacharow zuzählt, sind die ideologischen Hürden fremd und sie würde sich in den neuen Verhältnissen umbauen können113.
W.D. Connor bezeichnet das feste Streben des Regimes, die monolithische Einheit der Gesellschaft auf der Grundlage von den von ihm diktierten Basiswerten und Denkmuster zu bewahren, als Ursache der Aufbringung des Dissenses der künstlerischen Intelligenz und der nationalen und religiösen Minderheiten. W. D. Connor betont, dass sich die soziale Komplexität auch in der Vielfalt der Ausdrucksformen des Dissenses, seiner Zielen und Methoden widerspiegelt114. Im Unterschied zum Dissens der technischen und der künstlerischen Intelligenz verfügen der religiöse und der Nationaldissens über den Keim einer Massenbewegung, an die sich auch die Vertreter der Intelligenz würden anschließen können115. Den Zustand und die Aussichte des religiösen und des Nationaldissenses betrachtet der Forscher im engen Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der UdSSR und China, was insbesondere die Situation in den zentralasiatischen Republiken angeht116.
Die Unduldsamkeit des Regimes in Bezug auf die Dissensgruppen erklärt W.D. Connor als einen Zug des gesamten Systems, der durch die Verzerrung der Modernisierungspotentiale der UdSSR durch die Herrschaftsspezifik zustande kam und sich als Deformation der Interessenartikulation widerspiegelt. Das Regime kann nur die institutionelle Interessenvertretungsgruppen bzw. die Armee, die Wirtschaft usw. zulassen und toleriert keine assoziativen Interessenvertretungsgruppen, zu denen sich auch die Dissidenten gehören117.
W.D. Connor hält fest, dass nicht nur diese Verfolgungen die Entfaltung des Dissenses eindämmen, sondern auch die Art der vorhanden politischen Kultur, die die Bevölkerung viel enger an das Regime bindet, als an die Dissidenten118. Der Inhalt dieser These stimmt mit dem obengenannten Leitsatz von A. Shtromas überein, dass es einen Konsens zwischen der Elite und der Bevölkerung gibt. W.D. Connor zufolge schlägt sich die jeweilige politische Kultur der Bevölkerung im Fehlen der Forderungen an Legalität, Freiheit und repräsentative Institutionen nieder. Die Bedürfnisse der Bevölkerung beschränken sich nur auf die Konsumwaren, Nahrung und Vorhandensein eigener Wohnungen, auch wenn sie nur im Rahmen einer Wartelisteunterbringung nach einiger Zeit zugänglich werden. In Bezug auf die Dissidenten drückt die Bevölkerung das Unverständnis oder sogar Feindlichkeit aus119. So resümiert der Autor:
„ Dissent and dissenters may be a natural product of over fifty years of Soviet history, but just as natural is their failure to strike a responsive chord among the masses. The interest in freedom and the rule of law is not broad enough, is not sufficiently a ‘mass’ interest, to make its accommodation critical. “120
Die Chancen der reformdenkenden institutionellen Interessenvertretungsgruppen oder neuer liberalerer denkenden Generation der Parteiführung bzw. die Wahrscheinlichkeit des Parteidissenses, einen politischen Wandel auszulösen und zu vollziehen, bewertet W.D. Connor skeptisch. Die institutionellen Interessenvertretungsgruppen und sogar ihre Gönner aus der obersten Parteiführung werden geduldet, solange ihre Haltung dem herrschenden konservativen Mainstream loyal gegenübersteht, und wenn das nicht der Fall ist, können zuerst die ersten gesäubert und danach die zweiten degradiert werden121. Und die Rekrutierung der jüngeren Parteielite vollzieht sich am meistens aus denjenigen, deren liberales Denken W.D. Connor bezweifelt. Entgegen der obengenannten Meinung von B. Lewytzkyj neigt W.D. Connor zum Prognose, dass die jüngere Generation Parteiführung die Dissidenten genauso verfolgen wird, da sie der Verteidigung ihrer Ämter und Stellung anstreben wird. 122
Lässt sich den Ansatz von W.D. Connor zusammenfassen, dürfte man behaupten, dass der Autor der einzige in diese Arbeit einbezogene Forscher ist, der in den Vordergrund der Forschung des sowjetischen Dissenses seinen globalen soziologischen Hintergrund versetzte und die sowjetischen Dissidenten als Produkt der komplexen gesellschaftlichen Prozessen darstellte. Deshalb stand der Schwerpunkt seines Ansatzes nicht in der detaillierten Differenzierung der sowjetischen Dissidenten nach dem ideologischen Kriterium der Vertreter der klassischen Ansätze und dem Kriterium der Rahmendbedingungen des Handelns von A. Shtromas, was aber Verdienste seines Ansatze bzw. die gezeigte Kopplung des Dissenses an sozialökonomische Dynamik der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nicht verringert.
3.3 Der Ansatz von T. Friedgut
Der Ansatz von T. Friedgut hebt sich besonders von den zwei obengenannten funktionalistischen Ansätzen ab, indem der Autor die Sozialbasis des sowjetischen Dissenses als Hauptquell dessen Analyse in den Schwerpunkt seiner Forschung versetzt und auf der Grundlage der Selbstwahrnehmung der zu nah dem sowjetischen Dissens stehenden Probanden die Aspekte und die Probleme des sowjetischen Dissenses betrachtet, sie mit den Haltungen der westlichen Forscher des sowjetischen Dissenses u.a. P. Reddaway vergleicht und die Folgerungen zieht.
T. Friedgut legt als Hauptproblem der Forschung des sowjetischen Dissenses aus soziologischer Sicht fest, die Schwierigkeit die latenten demokratisch gesinnten Anhänger von den passiven Sympathisanten zu unterscheiden und strebt die Forschung dieser störenden Faktoren und die Mechanismen der Verbreitung der demokratischen Bewegung und die Reaktionen des Regimes darauf an, um die Aussichte des sowjetischen Dissenses in der Zukunft bewerten zu können123.
Die zu analysierende Selbstwahrnehmung der 40 ausgewanderten sowjetischen Staatsbürger, die am meisten Studenten sind124, wird von Forscher in 5 Aspekten geteilt, und zwar in die Feststellung des Wesens der demokratischen Bewegung, die programmatischen Probleme, die Zahl und Lokalisierung der sowjetischen Dissidenten, die Reaktion des Regimes auf sie und das Verhältnis zwischen den Dissidenten und der gesamten Gesellschaft.
T. Friedgut betont die Haltung der meisten Auskunftspersonen, dass abgesehen vom Sacharow-Tschalidse-Twerdochlebow-Menschenrechtskomitee es sich eher um die formell nicht organisierten demokratischen Gruppen, als die „Demokratische Opposition“ handeln sollte, da die totalitäre Macht jegliche formelle Strukturierung einer demokratischen Gruppe als Zeichen des Auftauchens der organisierten Opposition wahrzunehmen und sie im Keim zu ersticken anstreben würde. Die Taktik der sowjetischen Dissidenten durch das gute Gesetzwissen, die Willkür der polizeilichen Maßnahme einzudämmen und das Bekennen der Macht zu ihren Pflichten anzuspornen, schätzen die Auskunftspersonen besonders hoch.125
Als noch einen Grund des Fehlens an die formelle Struktur und Organisation erkennen die Auskunftspersonen die große programmtische Zersplitterung der Dissidenten und den Furcht vor der Rückkehr des Stalinismus bezeichnen sie als den einzigen Faktor, der die sowjetischen Dissidenten zusammenhält. Die sowohl programmatische, als auch Organisationszersplitterung des sowjetischen Dissidentums versucht der Autor durch die von den Auskunftspersonen vorgenommene Differenzierung der Dissidenten nach dem Kriterium des Entsprechens eines oder anderen prominenten Dissidenten der Demokratiegrundsätze. So wurde A. Solženizyn von einigen Auskunftspersonen der Neoslawophil und kein echter Demokrat genannt. Und als Schlussfolgerung der Zersplitterung des sowjetischen Dissenses bringen die Auskunftspersonen ihre fehlende Bereitschaft zum Ausdruck, sich an die „demokratische Bewegung“ aktiv beteiligen zu wollen. Aber die Möglichkeit, eine vereinigte Front der Dissidenten zu schaffen, halten sie für das Einsetzen einer charismatischen Person, die den Abstand zwischen den verschiedenen Gruppen verringern könnte, für möglich und nennen die Person von P. Jakir, der das hätte verwirklichen können, bevor er mit dem Regime zu kollaborieren entschied.126
1 Vgl. Peter Reddaway: The Development of Dissent and Opposition, in: the Soviet Union since the Fall of Khrushchev, hrsg. von Archie Brown [u.a.], New York 1975, S. 121-156
2 Vgl. Abraham Brumberg: Zur Opposition von Intellektuellen in der Sowjetunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 45 (1974), S. 17-29.
3 Vgl. Borys Lewytzkyj: Die linke Opposition in der Sowjetunion, Hamburg 1974.
4 Vgl. Günter Bartsch: Die Aktualität der liberalen Grundideen in der Sowjetunion und Osteuropa, in: Liberal, hrsg. von Hans Wolfgang Rubin [u.a.], Bonn 1974, S. 937-948.
5 Vgl. Zbigniew Brzezinski: Soviet Politics: From the Future to the Past?, in: The Soviet Polity in the Modern Era, hrsg. von Eric P. Hoffman [u.a.], New York 1984, S. 69-83.
6 Vgl. Walter D. Connor: Differentiation, Integration and Political Dissent in the USSR, in: Dissent in the USSR . Politics, Ideology and People, hrsg. von Rudolf L. Tokes, Baltimore, London 1975, S. 139- 157.
7 Vgl. Theodore Friedgut: The Democratic Movement: Dimensions and Perspectives, in: Dissent in the USSR . Politics, Ideology and People, hrsg. von Rudolf L. Tokes, Baltimore, London 1975, S. 116-136.
8 Vgl. Wolfgang Leonhard: Der innenpolitische Hintergrund für die neue Außenpolitik der Sowjetunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (1973), S. 22-30
9 Vgl. Alexander Shtromas: Dissent and Political Change in the Soviet Union, in: The Soviet Polity in the Modern Era, hrsg. von Eric P. Hoffman [u.a.], New York 1984, S. 717-752.
10 Vgl. Astrid Borcke: Der Kreml und die Politik der Entspannung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 45 (1974), S. 7f.
11 Vgl. Borys Lewytzkyj: Vor dem XXIV Parteitag der KPdSU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1970), S. 36f.
12 Vgl. Boris Meissner: Herrschaftssystem und Staatsapparat der Sowjetunion der Sowjetunion zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag, : Aus Politik und Zeitgeschichte 21 (1971), S.35, 38-41, 47.
13 Vgl. Paul Roth: Massenmedien in der Sowjetunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52 (1971), S. 37f.
14 Vgl. Martin D. Shulman: Um eine westliche Konzeption der Koexistenz und der Zusammenarbeit; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 5 (1974), S. 5f., 12.
15 Vgl. Heinrich Böll: Es wird immer später, in: Antwort an Sacharow, hrsg. von Gräfin Marion Dönhoff, Zürich 1969, S. 79-92.
16 Vgl. Louis Fischer: Der Kreml ist schwerhörig, in: Antwort an Sacharow, hrsg. von Gräfin Marion Dönhoff, Zürich 1969, S. 57-77.
17 Vgl. William Hayter: Model Sacharow, in: Antwort an Sacharow, hrsg. von Gräfin Marion Dönhoff, Zürich 1969, S. 49-56.
18 Vgl. Jean Laloy: Wider die Mauer der Macht, in: Antwort an Sacharow, hrsg. von Gräfin Marion Dönhoff, Zürich 1969, S.17-27.
19 Vgl. Pietro Quaroni: Hoffnung trotz Stacheldraht, in: Antwort an Sacharow, hrsg. von Gräfin Marion Dönhoff, Zürich 1969, S. 29-47.
20 Vgl. Michael Morozov: Der Fall Solschenizyn, in: Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, hrsg. von Rudi Dutschke, Hamburg 1975, S. 202-211.
21 Vgl. André Martin: Andrej Sacharow, Aschaffenburg 1976.
22 Reddaway: The Development, S. 122.
23 Vgl. Reddaway: The Development, S. 122.
24 Vgl. Reddaway: The Development, S. 123.
25 Vgl. Brumberg: Zur Opposition, S. 17f., 28f.
26 Brumberg: Zur Opposition, S. 17.
27 Vgl. Lewytzkyj: Die linke Opposition, S.7f., 31.
28 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 8.
29 Meissner: Herrschaftssystem, S. 40.
30 Meissner: Herrschaftssystem, S. 39.
31 Vgl. Reddaway: The Development, S. 123-146.
32 Vgl. Reddaway: The Development, S. 123
33 Vgl. Lewytzkyj: Die linke Opposition, S.36-38.
34 Vgl. Meissner: Herrschaftssystem , S. 38f.
35 Reddaway: The Development, S. 125.
36 Brumberg: Zur Opposition, S. 17.
37 Vgl. Reddaway: The Development, S. 121f.
38 Reddaway: The Development, S. 126.
39 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 31.
40 Vgl. Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 35-39.
41 Vgl. Roth: Massenmedien, S. 37.
42 Reddaway: The Development, S. 128f.
43 Brumberg: Zur Opposition, S. 18f.
44 Reddaway: The Development, S. 129.
45 Brumberg: Zur Opposition, S. 29.
46 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S.
47 Brumberg: Zur Opposition, S. 19.
48 Vgl. Reddaway: The Development, S. 129
49 Reddaway: The Development, S. 129.
50 Meissner: Herrschaftssystem, S.35.
51 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 42.
52 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S.5.
53 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 44.
54 Lewytzkyj: Vor dem XXIV. Parteitag, S. 36f.
55 Vgl. Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 40-43.
56 Vgl. Brumberg: Zur Opposition, S. 19, 29.
57 Reddaway: The Development, S. 129.
58 Brumberg: Zur Opposition, S. 18f.
59 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 33.
60 Vgl. Reddaway: The Development, S. 129f.
61 Roth: Massenmedien, S. 38.
62 Meissner: Herrschaftssystem, S.39.
63 Vgl. Reddaway: The Development, S.131f.
64 Vgl. Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 122-125.
65 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 125f.
66 Vgl. Reddaway: The Development, S. 129f.
67 Friedgut: The Democratic Movement, S. 126.
68 Reddaway: The Development, S. 130.
69 Vgl. Reddaway: The Development, S. 134f.
70 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 33f.
71 Vgl. Brumberg: Zur Opposition, S. 19.
72 Reddaway: The Development, S. 130.
73 Reddaway: The Development, S. 130f.
74 Vgl. Reddaway: The Development, S.143-146.
75 Brumberg: Zur Opposition, S. 20.
76 Reddaway: The Development, S. 132.
77 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 135.
78 Vgl. Reddaway: The Development, S. 149-151.
79 Vgl. Roth: Massenmedien, S.37f.
80 Reddaway: The Development, S. 134f., 151.
81 Vgl. Brumberg: Zur Opposition, S.28f.
82 Vgl. Reddaway: The Development, S. 123
83 Vgl. Meissner: Herrschaftssystem, S. 38f.
84 Wir denken, in: Spiegel 15 (1971), S. 112.
85 Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 136f.
86 Vgl. Lewytzkyj: Die linke Opposition, S. 134f.
87 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 717.
88 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 717.
89 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 725.
90 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 733.
91 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 724f.
92 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 730f.
93 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 725-727.
94 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 727f.
95 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 728f., 731.
96 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 728f.
97 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 731.
98 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 731f.
99 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 732f.
100 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 733.
101 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 733f, 735.
102 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 735f.
103 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 737.
104 Shtromas: Dissent and Political Change, S. 737f.
105 Vgl. Shtromas: Dissent and Political Change, S. 735.
106 Connor: Differentiation, S. 139f.
107 Vgl. Connor: Differentiation, S. 140-142.
108 Connor: Differentiation, S.142.
109 Connor: Differentiation, S.148.
110 Connor: Differentiation, S.152.
111 Connor: Differentiation, S.148.
112 Connor: Differentiation, S.148.
113 Vgl. Connor: Differentiation, S. 148.
114 Connor: Differentiation, S. 150.
115 Connor: Differentiation, S. 149.
116 Vgl. Connor: Differentiation, S. 152f.
117 Connor: Differentiation, S. 149.
118 Connor: Differentiation, S. 155.
119 Connor: Differentiation, S. 155.
120 Connor: Differentiation, S. 155.
121 Vgl. Connor: Differentiation, S. 149f.
122 Connor: Differentiation, S. 154.
123 Vgl. Friedgut: The Democratic Movement, S. 117f.
124 Friedgut: The Democratic Movement, S. 118.
125 Friedgut: The Democratic Movement, S. 118f.
126 Vgl. Friedgut: The Democratic Movement, S. 119f.
