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Alle_sieben_Wellen.doc
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18.11.2019
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30 Minuten später

RE:

Ja, das kommt an. Aber soll ich dir was verraten, lieber Leo? Du bist schon besser bei mir angekommen als in den vergangenen Tagen. Was ist mit dir? Wo warst du? Was testest du? Was machst du da für Sachen? Warum hetzt du mir den Systemmanager auf den Hals? Ich dachte schon, du hättest dich wieder nach Boston abgesetzt.

Zwei Minuten später

AW:

Tut mir leid, Emmi. Tut mir so leid! Da gab es offenbar einen gröberen Softwarefehler. Die hatten versehentlich mein Outlook abgemeldet. Vielleicht habe ich eine Frist versäumt. Seit drei Tagen scheinen keine Eintragungen mehr auf. Hast du mir geschrieben?

Zwölf Minuten später

RE:

Ja, Leo. Ich habe dir geschrieben. Ich habe dich etwas gefragt. Ich habe zweieinhalb Tage auf deine Antwort gewartet. Ich habe um dich gebangt, wie in den besten Stunden vor deiner Amerikaflucht. Ich habe dich sogar angerufen, ich hätte nicht mit dir gesprochen, ich wollte nur deine Stimme hören, aber unter deiner alten Nummer gab es »keinen Anschluss« mehr. Ich habe dir Tränen ohne Flüssigkeit nachgeweint. Ich habe dir hysterisch nachgelächelt. Ich dachte, was nie begonnen hat, ist nun bereits zum zweiten Mal vorbei. Das waren die Höhepunkte meines wenig erquicklichen Daseins während deines gröberen Softwarefehlers. Als gäbe es real nicht schon genügend Trennungsgründe, setzt das System, das unsere Steuerung übernommen hat, immer noch eins drauf. Gruselig, auf welchem Terrain wir uns da bewegen. Jetzt bin ich einfach nur erschöpft. Gute Nacht. Schön, dass du wieder da bist. Schön und beruhigend.

Drei Minuten später

AW:

Liebe Emmi, es schmerzt mich, dir wehgetan zu haben, das kannst du mir glauben. Es war höhere Gewalt: Computertechnik. Wie schnell sie verbindet, so schnell trennt sie. Dagegen sind wir mit unseren Gefühlen machtlos. Verzeih mir. Und schlafe gut, meine Liebe.

Am nächsten Morgen

Betreff: Deine Frage

Guten Morgen, Emmi. Ich habe gerade mit einem »Spezialisten« telefoniert: Das »System« ist wieder in Ordnung. Ich hoffe, du bist ausgeschlafen. Ach ja, du sagst, du hast mich etwas gefragt. Was wolltest du wissen? Alles Liebe, Leo.

Eine Stunde später

RE:

In verknappter Form: Heute, 15 Uhr, Messecafé?

30 Minuten später

AW:

Ja, aber (…). Nein, kein Aber. Ja!

20 Minuten später

RE:

Schön! Und für diese interessante Kausalkette hast du dreißig Minuten gebraucht, mein Lieber? NUR dreißig Minuten? Darf ich analysieren? Zuerst ein »Ja« der scheinbar entschlossenen Zusage. Dann ein Komma der zu erwartenden Beifügung. Dann ein »Aber« der angekündigten Einschränkung. Dann eine runde Klammer der schriftlichen Formalkunst. Dann drei Punkte der geheimnisumwitterten Gedankenvielfalt. Danach Disziplin genug, um die Klammer zu schließen und das anonyme Wirrnis zu verpacken. Danach ein wertkonservativer Punkt, um im inneren Chaos die äußere Ordnung aufrechtzuerhalten. Dann plötzlich ein trotziges »Nein« der scheinbar entschlossenen Absage. Wieder ein Komma der bevorstehenden Ergänzung. Danach ein »Kein« der kompromisslosen Ablehnung. Dann ein neuerliches »Aber«, ein sich auflösendes, ein »Aber«, das nur da ist, um aufzuzeigen, dass es keines mehr gibt. Alle Zweifel angedeutet. Kein Zweifel ausgesprochen. Alle Zweifel abgeschoben. Am Ende steht ein tapferes »Ja« mit trotzigem Ausrufezeichen. Nochmals zusammengefasst: »Ja, aber (…). Nein, kein Aber. Ja!« Was für ein prächtiges Rondo deiner Wankelmütigkeit. Welch faszinierender Rundgesang deiner offen ausgetragenen Entscheidungsfindung. Dieser Mann weiß genau, dass er nicht weiß, was er will. Und dieses Wissen versteht er wie kein anderer an jene Person weiterzureichen, die es betrifft. Und das alles in läppischen dreißig Minuten. Genial! Dafür hat man dich Sprachpsychologie studieren lassen, lieber Leo.

Drei Minuten später

AW:

Und du weißt, was du willst?

30 Sekunden später

RE:

Ja.

40 Sekunden später

AW:

Was?

50 Sekunden später

RE:

Dich. (Noch einmal auf einen Kaffee treffen.) ((Du siehst, auch ich beherrsche das Spiel der Klammern.))

30 Sekunden später

AW:

Wozu?

Eine Minute später

RE:

Weil ich das Gleiche tue, was du tust, wenngleich du es dir, Klammer auf, und mir, Klammer zu, offenbar nur im betrunkenen Zustand eingestehen kannst.

40 Sekunden später

AW:

Und das wäre?

30 Sekunden später

RE:

Mich für dich interessieren.

40 Sekunden später

AW:

Ja, liebe Emmi. Kein Aber, keine Punkte, keine Klammern. Einfach nur: Ja. Richtig. Gut erkannt. Ich interessiere mich für dich.

Eine Minute später

RE:

Bestens, lieber Leo. Dann sind die Voraussetzungen für einen zweiten gemeinsamen Kaffeehausbesuch erfüllt, meine ich. Um drei?

20 Sekunden später

AW:

Ja. Klammer auf. Ausrufezeichen. Ausrufezeichen. Klammer zu. Um drei.

KAPITEL SECHS

Gegen Mitternacht

Betreff: Du

Lieber Leo, diesmal danke ich (zuerst). Danke für den Nachmittag. Danke, dass du mich durch einen schmalen Spalt in deinen Gefühlsschrank blicken hast lassen. Was ich sehen konnte, hat mich davon überzeugt, dass du bist, der du schreibst. Leo, ich habe dich erkannt. Ich habe dich wiedererkannt. Du bist der Gleiche. Du bist ein und derselbe. Du bist wirklich. Ich mag dich sehr gern! Schlaf gut.

20 Minuten später

AW:

Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand, etwa in der Mitte, wo die Lebenslinie von dicken Faltenbögen durchkreuzt Richtung Pulsader abbiegt, dort befindet sich ein Punkt. Ich betrachte ihn, aber ich kann ihn nicht sehen. Ich fixiere ihn, aber er lässt sich nicht festhalten. Ich kann ihn nur fühlen. Ich spüre ihn auch mit geschlossenen Augen. Ein Punkt. Er fühlt sich so stark an, dass mir schwindlig wird. Wenn ich mich auf ihn konzentriere, entfaltet sich seine Wirkung bis in die Zehen. Er prickelt, er kitzelt, er wärmt mich, er wühlt mich auf. Er treibt meinen Kreislauf an, er dirigiert meinen Puls, er bestimmt das Tempo meiner Herzschläge. Und im Kopf, da entfaltet er seine berauschende Wirkung wie eine Droge, erweitert mein Bewusstsein, verschiebt meinen Horizont. Ein Punkt. Ich könnte lachen vor Freude, weil er mir so guttut. Ich könnte weinen vor Glück, ihn zu besitzen und bis in die feinsten Glieder von ihm erfasst und erfüllt zu werden.

Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand, wo sich der Punkt befindet, dort hat sich heute Nachmittag, es muss gegen 16 Uhr gewesen sein, an einem Kaffeehaustisch ein Zwischenfall ereignet. Meine Hand wollte nach einem Glas Wasser greifen. Da kamen ihr die fließenden Finger einer anderen, zarteren Hand entgegen, versuchten zu bremsen, versuchten auszuweichen, versuchten die Kollision zu verhindern. Fast wäre es gelungen. Fast. Die weiche Kuppe eines vorbeischnellenden Fingers kam für einen Bruchteil einer Sekunde auf der Innenfläche meiner zum Wasserglas greifenden Hand zu liegen. Das ergab eine zarte Berührung. Ich habe sie gespeichert. Keiner nimmt sie mir. Ich spüre dich. Ich erkenne dich. Ich erkenne dich wieder. Du bist die Gleiche. Du bist ein und dieselbe. Du bist wirklich. Du bist mein Punkt. Schlaf gut.

Zehn Minuten später

RE:

Leo!!! War das schön! Wo lernt man so was? Jetzt brauche ich einen Whiskey. Lass dich nicht stören. Geh ruhig schlafen. Und vergiss den Punkt nicht. Am besten, du machst mit der linken Hand eine Faust um ihn. Dann bleibt er geschützt.

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