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Schastina_J_M_Deutschsprachige_Literatur_des_20_Jahrhunderts_Teil_II.doc
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1.Appelle zu Kritik und Verweigerung in der Lyrik

Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit (1953), Anrufung des großen Bären (1956); Günter Eich: Träume (1953); Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe (1957), landessprache (1960).

Ingeborg Bachmann war rasch zu Ruhm gekommen. Schon ihr erster Lyrikband von 1953 Die gestundete Zeit enthält einige Gedichte, die sehr genau das Zeitbewußtsein derer treffen, die dem Frieden jener Jahre nicht trauen. Ihre Gedichte überzeugen nicht nur durch die neue lyrische Stimme; es ist auch ein überraschend frischer politischer Ton, den die Autorin anschlägt.

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.

Die auf Widerruf gestundete Zeit

wird sichtbar am Horizont.

Bald mußt du den Schuh schnüren

und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.

Denn die Eingeweide der Fische

sind kalt geworden im Wind.

Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.

Dein Blick spurt im Nebel:

die auf Widerruf gestundete Zeit

wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,

er steigt um ihr wehendes Haar,

er fällt ihr ins Wort,

er befiehlt ihr zu schweigen,

er findet sie sterblich

und willig dem Abschied

nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.

Schnür deinen Schuh.

Jag die Hunde zurück.

Wirf die Fische ins Meer.

Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Hinweise zum Wortschatz:

der Marschhof – der Bauernhof in der Marsch

die Marsch – flaches Land am Meer; sehr fruchtbarer Boden.

Aufgaben zum Gedicht:

  1. Zeit und Abschied sind zwei Themen dieses Gedichtes. Deuten Sie diese Schwerpunkte auf dem Hintergrund der Nordseelandschaft.

  2. Zeigen Sie, wo die reale Situation des Menschen auch in den transzendentalen Bereich hinüberspielt.

  3. Die Rahmenzeile bringt Geschlossenheit und Intensivierung zum Ausdruck. Welchen Anlaß könnte die Dichterin haben, sich mahnend an ihre Zuhörer zu wenden?

Reklame

Wohin aber gehen wir

ohne sorge sei ohne sorge

wenn es dunkel und wenn es kalt wird

sei ohne sorge

aber

mit musik

was sollen wir tun

heiter und mit musik

und denken

heiter

angesichts eines Endes

mit musik

und wohin tragen wir

am besten

unsre Fragen und den Schauer aller Jahre

in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge

was aber geschieht

am besten

wenn Totenstille

eintritt (1956)

Hinweise zum Wortschatz:

der Schauer – heftige Empfindung, bes. Der Ehrfurcht, Ergriffenheit, Angst, des Entsetzens, die jmdn. Frösteln lässt.

Aufgaben zum Gedicht:

  1. Wofür wird im Text geworben? Auf welche Weise soll die Werbung auf den Verbraucher wirken? Welche Vokabeln dienen dazu?

  2. Welchen Sinn hat der übrige Text? Welches Problem wird darin ausgedrückt? Wie ist die Tönung der Aussage? Welche Vokabeln sind mit entsprechenden Konnotationen versehen?

  3. Was ist unter Schauer aller Tage verstehen?

  4. Beschreiben Sie die Besonderheiten der Montagetechnik. Warum wird die verbale Form eintritt durch den Zeilensprung vom Text abgetrennt?

  5. Warum gebraucht die Dichterin keine Interpunktionszeichen? Setzen Sie entsprechende Interpunktionszeichen.

  6. Welcher Ton entsteht, wenn die tragische Färbung mit der heiteren Begleitmusik verbunden wird?

Günter Eich. Der erste Preisträger der Gruppe 47, Günter Eich, hatte ebenfalls schon in den zwanziger Jahren publiziert. Hörspiele sind es, neben seinen Gedichten, die ihn nach dem Krieg rasch bekannt machen. Fast alle bekannten Autoren arbeiteten in diesem Genre, für das damals modernste Massenmedium Radio. Günter Eich war besonders produktiv. Sein berühmtestes Hörspiel trägt den Titel Träume. Durchgesetzt mit lyrisch-poetischen Elementen, thematisieren sie Bedrohungen, die hinter der Realität des Menschen liegen und die von diesem nicht wahrgenommen werden. Zu solchen Bedrohungen gehören die Verunsicherung über die eigene Identität, deren Verlust oder deren Vertauschung, ein bekanntes oder unbekanntes Schicksal, das akzeptiert werden muß; oder das unveränderbare Böse an sich, das in Angstvisionen wahrgenommen wird. Das letzte ist Thema des Hörspiels Träume , dessen Schlußverse zeigen, mit welcher Absicht Eich verborgen Bedrohliches offenlegen wollte:

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!

Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!

Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!

Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!

Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

Diese Verse wurden berühmt; noch in der Studentenbewegung berief man sich auf sie.

Hans Magnus Enzensberger geboren am 11.11.1929, studierte von 1949 bis 1954 Literaturwissenschaft, Sprachen und Philosophie in Erlangen, Hamburg, Freiburg und Paris. 1955 promovierte er mit einer Arbeit über Clemens Brentano. Er debütierte zwischen 1955 und 1957 mit Beiträgen für die Redaktion Radio-Essay in Stuttgart unter Alfred Andersch. Nach seinen ersten Veröffentlichungen wurde Enzensberger bald als «zorniger junger Mann der Literatur» und «bürgerschreck» etikettiert. Schon in seinem ersten Gedichtband Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer (1957) bricht er mit dem lyrischen Traditionalismus und benutzt die Poesie als Mittel der politischen Analyse, ein Verfahren, das in den Bänden landessprache (1960) und blindenschrift (1964) noch verfeinert wird. Er wurde mit diesen drei Lyrikbänden so bekannt, daß er schon nach den ersten beiden, 1963, den Georg-Büchner-Preis erhielt. 1960 erschien die von ihm herausgegebene Anthologie Museum der modernen Poesie, die zur Rezeption der internationalen Moderne in dem Nachkriegsdeutschland beitrug. Mit dem Essayband Einzelheiten legte Enzensberger 1962 Arbeiten zur Kulturkritik vor. Mitte der 60er Jahre wendet sich Enzensberger im Zuge der Studentenbewegung verstärkt der politik zu und schafft mit der Zeitschrift Kursbuch (1965) ein wichtiges Forum der Linken. In dem Lyrikband Gedichte 1955-1970 erklärte der Autor 1971 seinen Abschied von der Illusion der ‘Kulturrevolution’. Im Untergang der Titanic (1978) und in den Gedichtbänden Die Furie des Verschwindens (1980) und Zukunftsmusik (1991) wendet er sich wieder verstärkt der Literatur zu. Enzensberger hatte stets ein Gespür für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Trends; 1988 lieferte er mit Mittelmaß und Wahn eine essyistische Bestandsaufnahme der (alten) Bundesrepublik in ihrer letzten Phase. Er verkörpert den Typus des ebenso intelligenten wie vielseitig-flexiblen Kritiker-Autors, der über eine breite Kenntnis der internationalen Literatur verfügt.

Kennzeichnend für Enzensberger ist die Kompromißlosigkeit, mit der das Unbehagen an einer in sich verfestigten Wohlstandsgesellschaft thematisch wird. Montagen, Wortspiele, Paradoxien, entstellte Zitate und die kontrollierte Einbeziehung der Banalität, des Jargons und der drastischen Vokabel dienen zum satirischen Angriff auf das mörderisch-selbstmörderische Bündnis zwischen den «wölfen» und den «lämmern» im Lande. Die skeptische Haltung, die in blindenschrift an die Stelle unmittelbarer Empörung tritt, mag durch einen Auszug aus dem Gedicht blindlings verdeutlicht werden.

Siegreich sein

wird die sache der sehenden

die einäugigen

haben sie in die hand genommen

die macht ergriffen

und den blinden zum könig gemacht

(...)

anständige bürger aber trauen

mit rücksicht auf die verhältnisse

ihren augen nicht

streuen sich pfeffer und salz ins gesicht

betasten weinend die sehenswürdigkeiten

und erlernen die blindenschrift

der könig soll kürzlich erklärt haben

er blicke voll uversicht in die zukunft

Das Gedicht landessprache, das dem 1960 erschienenen Gedichtband Enzensbergers den Titel gab, beginnt mit den Versen:

was habe ich hier verloren,

in diesem land,

dahin mich gebracht meine älteren

durch arglosigkeit?

Eingeboren, doch ungetrost,

abwesend bin ich hier,

ansässig im gemütlichen elend,

in der netten, zufriedenen grube.

Was habe ich hier? Und was habe ich hier zu suchen,

in dieser schlachschlüssel, diesem schlaraffenland,

wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts,

wo der überdruß ins bestickte hungertuch beißt,

wo in den delikateßgeschäften die armut, kreidebleich,

mit erstickter stimme aus dem schlagrahm röchelt

und ruft: es geht aufwärts!

(...)

«In dieser Lyrik ist ein an Brecht sowohl wie an Benn geschulter, doch eigenständiger Ton zu vernehmen, der sich im Übergang zu den 60er Jahren als Replik auf «Wirtschaftswunder» und Überflußgesellschaft zu Gehör bringt» (Schnell 1986. S.125).

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