
3. Die Zeit
Die Kategorie der Zeit ist das typischste Merkmal des Verbs als Wortart. Sie ist jedem Verb eigen, weil jeder Prozeß in der Zeit verläuft und weil kein Merkmal einem Substantiv ohne Angabe der Zeit zugeschrieben werden kann. Jeder Satz weist auf eine zeitliche Bedeutung (die Temporalität) auf. Man bestimmt die zeitliche Bedeutung auf zweierlei Weise:
man bezeichnet die zeitliche Beziehung zwischen dem Moment der Handlung und dem Moment der Rede: wenn sie zusammenfallen, spricht man von der Gegenwart; nennt man eine früher geschehene Handlung, so hat man mit der Vergangenheit zu tun; wenn eine Handlung noch bevorsteht, charakterisiert man die Temporalität, als Zukunft. In allen diesen Fällen spricht man von der absoluten zeitlichen Bedeutung.
man vergleicht die Zeit zweier verschiedenen Vorgänge miteinander; geschehen sie zu derselben Zeit, so ist es die Gleichzeitigkeit der Handlung; anderenfalls spricht man von der Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit einer Handlung inbezug auf die andere. Da eine Handlung auf die andere bezogen wird, spricht man von der relativen zeitlichen Bedeutung.
Die Tempokalität kann im Deutschen, wie auch im Russischen durch lexikalische und grammatische Mittel ausgedrückt werden. Zu den lexikalischen Mitteln gehören die Adjektive mit der temporalen Bedeutung (spät, früher), die Temporaladverbien (damals, morgen), die Substantive im Akk. und Gen. (einen Monat, eines Tages), die Substantive mit den Präpositionen (in acht Tagen, vor zwei Jahren). Diese Mittel nennen die Zeit konkret. Zu den grammatischen Mitteln gehören die Zeitformen (die Tempora). Sie nennen nicht einen bestimmten Zeitpunkt, sondern eine Zeitebene. Ihre zeitliche Bedeutung kann von mehreren Faktoren abhängen und wesentlich variieren.
Die deutsche Sprache der Gegenwart besitzt sechs Zeitformen: Präsens, Imperfekt (Präteritum), Perfekt, Plusquamperfekt, Futurum I und Futurum II. Die Benennungen sind dem Lateinischen entnommen und entsprechen der Bedeutung nicht. Die lateinische Sprache verfügt über ein strenges System. Sie unterscheidet drei absolute und drei relative zeitliche Bedeutungen, u.z.:
Gegenwart - Vorgegenwart
Vergangenheit - Vorvergangenheit
Zukunft - Vorzukunft
Zum Ausdruck dieser Bdg-en dienen die Zeitformen:
Präsens - Perfekt
Präteritum - Plusquamperfekt
Futurum I - Futurum II
Dieses Schema hat nie der deutschen Wirklichkeit entsprochen. Die ahd. Sprache besaß nur zwei Zeitformen: Präsens und Präteritum Das Präsens bezeichnete einen Vorgang in Gegenwart, Zukunft und auch einen Vorgang im allgemeinen, ohne Bezug auf eine bestimmte Zeit. Seine eigentliche Bedeutung in jedem konkretem Falle wurde durch die lexikalischen Mittel oder durch die ganze Situation festgelegt. Das Präteritum bezeichnete eine Handlung in der Vergangenheit ohne jede weitere Abstufung. Das Präteritum war keinesfalls auf die Wiedergabe einer imperfektiven Handlung spezialisiert. Schon Ende der ahd. Periode erschienen umschriebene Formen, die erst im mhd sich allmählich verbreiteten. In der Sphäre der Vergangenheit ist es die Verbindung der Verben "sein, haben" mit dem Partizip II; "sein" verbindet sich mit den Partizipien von allen intransitiven perfektiven Verben, "haben" zuerst mit den Partizipien von allen transitiven Verben, später auch von den imperfektiven intransitiven Verben. Die Gefüge der ersten Gruppe haben eine perfektive Bedeutung (ist gekommen, ist gestorben), was die Benennung "Perfekt" gerechtfertigt; dieselbe Form von den anderen Verben (hat gelebt, ist gelaufen) bezeichnet keine perfektive Handlung. Das Plusquamperfekt hat sich schon sehr früh spezialisiert als eine Form zur Angabe der Handlung in der Vergangenheit, die einer anderen, ebenso vergangenen Handlung vorangeht; diese relative Bedeutung der Vorvergangenheit behält es bis heute.
Im ahd. gab es einige umschriebene Formen zum Ausdruck einer zukünftigen Handlung (die Verben skulan, wellen, mit dem Infinitiv); das Verb "werden" tritt in dieser Rolle noch im mhd ziemlich selten auf, bekommt aber die Oberhand im nhd. Im nhd erscheint neben dem Futurum I die zweite umschriebene Form, Futurum II mit der Bedeutung der Vorzukunft. Im Laufe der Zeit bekommt jede der 6 Zeitformen neue Funktionen. Über die Bedeutungen jeder Zeitform lesen wir in Schendels, 88:41-63; Admoni, 60: 170-178; Moskalskaja, 75:93-111..
Hennig Brinkmann schlägt ein neues Schema für die Zeitformen vor:
Einfache Formen Verlaufsstufe
Präsens allgemeine Zeit
Präteritum vergangene Zeit
Analytische Formen Vollzugsstufe
Perfekt vollzogenes Geschehen
Plusquamperfekt in der Vergangenheit vollzogenes Geschehen
Erwartungsstufe
Futurum I erwartetes Geschehen
Futurum II erwartetes vollzogenes Geschehen
Unter dem vollzogenen Geschehen wird hier nicht eine perfektive, abgeschlossene, bis zu einer Grenze geführte Handlung (die etwa dem russischen совершенный вид entspräche), sondern eine Handlung, die im Moment der Rede nicht mehr ausgeführt, ausgeübt wird, nicht mehr da ist: Ralf hat an der Bus-Haltesstelle lange auf Lisbeth gewartet). In diesem Satz ist durch das Perfekt die dauerdne Handlung angegeben, also das Verlaufen eines Geschehens, was dem Schema nach dem Präteritum eigen ist.
Jede Zeitform (außer dem Präteritum) hat mehrere Bedeutungen. Dabei können sie auch nicht nur die Zeit, sondern auch die Modalität (wie Aufforderung und Vermutung) ausdrücken. Die zeitliche Bedeutung, die für einen Satz aktuell ist, kann aus dem Zusammenspiel verschiedener Sprachelemente erschlossen werden: aus der Zeitform, lexikalischen Mitteln, dem gesamten Kontext. In den Sätzen: Helga kommt gewöhnlich (stets) gegen acht (eine zeitlose Handlung) und Helga kommt heute (erst) gegen acht (eine bevorstehende Handlung) vermitteln die Adverbialbestimmungen der Zeit eine genaue zeitliche Charakteristik. Oder der Satz, der auf die Vergangenheit bezogen ist: Wir haben das Schwerste "überstanden"wird mit Hilfe der Adverbialbestimmung in die Zukunft transponiert: Morgen haben wir das Schwerste überstanden. Der Satz: "Eva wird schlafen" kann die Zukunft und die Vermutung ausdrücken. Fast jede Zeitform ist polysemantisch, in einem Kontext wird nur ein Teil der möglichen Bedeutungen realisiert.
Die Mehrdeutigkeit der Zeitformen hat ihre Synonymie zur Folge.
Die Zeitformen nähern sich in ihren einigen Bedeutungten einander an, manchmal können sie einander ersetzen: Präsens und das Futurum I; Präsens und Präteritum; Präteritum und Perfekt u.a. Dabei ist die Wahl der Zeitform von mehreren Erwägungen (соображений) abhängig, die zeitliche Bedeutung wird von den kontextualen Elementen unterstützt.
Die Tatsache, dass die Benennungen der Zeitformen ihrer Bedeutung nicht entsprechen, hat einige Forscher veranlaßt, nach neuen Namen zu suchen. H.Brinkmann ersetzt "Präsens" durch "Stammform I", "Präteritum" durch "Stammform II". H. Glinz nennt sie bzw. "allgemein" und "vergangen".
Dieselbe Frage von Moskalskaja betrachtet (88:90-93).
Das Verb (Fortsetzung)