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613897_0139E_moskalskaja_o_i_deutsche_sprachges...doc
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§ 1. Der Sprach wandel

Jede Sprache ist ein dynamisches System. Die Sprache ist standiger Verдnderung unterworfen. Die Angehцrigen einer Generation werden der Sprachveranderung kaum gewahr, da diese den Charakter einer langsa­men Evolution tragt; sie erfasst verschiedene Glieder des Sprachkцrpers nicht auf einmal und nicht in gleichem Tempo; sie leitet nur sehr lang­sam, im Laufe von Jahrhunderten zu einem neuen Sprachstand hinьber Letzteres gewдhrleistet die Kontinuitдt der Sprache von Generation zu Generation.

Wandel im Wortschatz. Die Sprachveranderung lasst sich auch bei der synchronischen Sprachbetrachtung erkennen, und zwar am leichtesten am Wortschatz Der Wortschatz einer Sprache ist ьberaus empfindlich fьr alle Ereignisse und Wandlungen im sozialen Leben und in der Ideologie, fьr den Fortschritt in Wissenschaft und Technik, auch fьr die Mode u. a. m. Neue Wцrter bereichern den Wortschatz fortwдhrend; andere Wцrter veralten oder kommen ganz aus dem Gebrauch. Neben dem konstanten Wortgut bestehen im Wortschatz einer Sprache zu jeder Zeil auch Neologismen sowie veralte­te bzw. veraltende Wцrter. So ist die historische Schichtung des Wortschat­zes auch aus synchronischer Sicht unverkennbar

Wandel im phonologischen System. Will man dem Wandel im phonn-logischen System und im grammatischen Bau einer Sprache nachgehen, so muss man grцЯere Zeitabschnitte im Leben dieser Sprache ins Auge fassen. Vergleicht man zum Beispiel die Laut form der Worter in einem mittelalterli­chen Lied mit deren gegenwartiger Lautung, so sieht man, dass dem Vokal der im 12. Jh. in den Wцrtern min, din. sin. sluzzelin u. a. gesprochen wurde, in der Gegenwartssprache der Diphthong ei [aej entspricht:

II

Du bist min, ich bin ihn: des soll dь genis sin. dь bist beslozzen in minem herzen: verlorn ist das sluzzelin: dь munst immer dhnne sin (12. Jh.)

Das ist die Folge des historischen Lautwandels, der sog. neuhochdeut­schen Diphthongierung {i>ei:min > mein; ь > au: tut > laut: iu [ y:| > eu: hurte > heute), die sich im Deutschen in der Zeit zwischen dem 12.- 15. Jh. verbreitete. Man sieht ebenfalls, dass aus der Konsonantenverbindung sl ein schl [}\ wurde (13.-16. Jh.). Gleichzeitig entwickelten sich auch die Konso­nantenverbindungen sn, sm, sw, rs zu sehn, schm. schw. rsch: snell > schnell, smerzen > .schmerzen, swarz > schwarz, herrsen > herrschen.

Wandel im Jirammatischen Bau. Einige Wandlungen in der Formenbil­dung mцgen die Anfangszeilen aus dem nachstehenden Gedicht aus dem 9. Jh., dem „Ludwigslied*', veranschaulichen:

.' m,in kuning uueiz ih. Heizjit her Hluduig

Einen Kцnig weiЯ ich. heiЯt er Ludwig.

Ther gerno gode thionnt: Ih uuetz her imns lцnцt.1

der eifrig Gott dient: ich weiЯ, er ihm es lohnt

Die Verbalformen heizstt 'heiЯt', thionnt 'dient', lцnцt 'lohnt' zeigen eine altertьmliche Rexion: -M, -ц-/, die in der Gegenwartssprache zu -/ verein­facht wurde. Die Verbindung zwischen den Elementarsatzen zur Parataxe bzw zur Hypotaxe ist sehr lose, meist konjunktionslos: auch die Wortstel­lung, insbesondere die Spitzenstellung des Verbs im Salz Heizsit her Hlu-diiig. weicht von der heutigen ab.

Verдnderlichkeit der Stilnnrmi-n. Von einem Jahrhundert zum an­deren, ja oft in kьrzeren Zeitabstanden andern sich auch die Stilnormen der Rede. Der Stil der Figurensprache in den Dramen des 18. Jh.. den Lessing die Helden von „Minna von Barnhelm" oder Schiller die Helden von ..Kabale und Liebe" reden Idsst, empfindet man heule als sehr veral­tet. Diese Wirkung beruht auf den veralteten Anredeformen, auf Wort­wahl und Satzgestattung, die von dem modernen Sprachusus der gespro­chenen Rede abweichen. Vgl die Szene zwischen dem Kammermadehen Franziska und dem Wachtmeister (I). die Szene zwischen Minna von Яarnhelm und dem Major Teilheim (2). die Szene zwischen Lady Mil-ford und Louise Miller (3):

(1) Franziska Nun, Herr Wachtmeister''

Werner. Frauenzimmerchen, wenn ich wiederkomme, soll ich auch ge­putzt kommen''

uu. u vor Vokal * »\ also uueiz lwci?]. Hluduig fhludwi:g); z,zs = s, also uueiz | wejj ]. heizsit [Tieisil]; ih = |ц], woraus spater [dl. also ther [Oer], ihionцi f'цionort]. spater [der], |'diono:l|.

Franziska Komm Er. wie Er will, Herr Wachtmeister, meine Augen wer­den nichts wider Ihn haben Aber meine Ohren werden desto mehr auf ihrer Hut gegen Ihn sein mьssen. - Zwanzig Finger, alle voller Ringe! Ei. ei. Herr Wachtmeister!

(Minna von Marnheim. III. Aufzug. 11. Auftritt)

(2) Von Tellheim: Wohin, mein Fraulein?

Das Frдulein: Aus. Herr Major - Ich errate, warum Sie sich nochmals her bemьht haben mir auch meinen Ring wieder zurьckzugeben Wohl. Herr Major; haben Sie nur die Gute, ihn der Franziska einzuhдndigen - Fran­ziska, nimm dem Herrn Major den Ring ab! -Ich habe keine Zeit zu verlieren.

von Tellheim Ah. was habe ich erfahren, mein Fraulein! Ich war so vieler Liebe nicht wert.

Das Frдulein: So. Franziska? Du hast dem Herrn Major -

Franziska: Alles entdeckt.

von Tellheim Zьrnen Sie nicht auf mich, mein Frдulein. Ich bin kein Ver­ratet. Sie haben um mich in den Augen der Welt viel verloren, aber nicht in meinen...

Das Frдulein Alles recht gut. Herr Major! Aber es ist nun einmal gesche­hen. Ich habe Sie Ihrer Verbindlichkeit erlassen: Sie haben durch Zu­rьcknehmung des Ringes -

vm Tellheim: In nichts gewilliget' - Vielmehr halte ich mich jetzt fьr gebun­dener als jemals. - Sie sind die Meinige, Minna, auf ewig die Meinige. Hier, empfangen Sie es zum zweitenmal, das Unterpfand meiner Treue -(Minna von Bamhelm, V. Aufzug, 5. Auftritt)

(3) Louise: Gnadige Frau, ich erwarte Ihre Befehle.

Lady: Aha! Ist Sie hier11 - Ohne Zweifel die Mamsell - eine gewisse - wie

nennt man Sie doch? Ltnuse Miller nennt sich mein Vater, und Ihre Gnaden schickten nach seiner

Tochter

Ltuiy Recht! Recht! Ich entsinne mich - die arme Geigertochter, wovon neulich die Rede war - ... Trete Sie naher, mein Kind!

(Kabale und Liebe. Akt IV. Szene 7)

Verдnderlichkeit der Existenzformen der Sprache. Zeilgebunden und verдnderlich sind auch die Existenzformen der Sprache. Die gemeindeut­sche Nationalsprache, wie wir sie heute kennen, ist eine historische Katego­rie. Sie ist zusammen mit der deutschen Nation entstanden Die ersten An­sдtze zu ihrer Herausbildung reichen in die Epoche des Fruhkapitalismus. d. i. in die Zeil der vollen Entfaltung der Warenproduktion, der Eroberung des inneren Marktes durch die Bourgeoisie, der staatlichen Zusammenfas­sung ehemaliger feudaler Territorien hinьber. Der gemeindeutschen Natio­nalsprache der neueren Zeil gingen in der Epoche der einzelnen feudalen HerTschaftsterntorien des Frьh- und des Hochniittelalters die sog. Teniton-aldialekte voran, die der feudalen Zersplitterung des Landes und dem regio­nalen Charakter des sozial-цkonomischen und des gesamten, цffentlichen

Lehens Rechnung (rьgen. Vergleiche folgende Charakteristik der Sprachsi tuatinn in Deutschland zu Anfang des 16. Jh. in einer Tischrede Martin Lu­thers (1483-1546):

„Teutschland hat mancherlei Dialcclos. Art zu reden also, daЯ die Leute in 25 Meilen wegs einander nicht wol kцnnen verstehen. Die Цsterreicher und Bayern verstehen die Duringen und Sachsen nicht. Sonderlich die Niederlander..."

Die Lokaldialekte des Hochmittelalters haben ihrerseits eine altere Exi­stenzform der Sprache, die sog. Stammesdialckte abgelцst.

Auch beim Wandel ihrer Existenzformen wahrt die Sprache ihre Konti­nuitдt. Die gemeindeutsche Nationalsprache baute bei ihrer Entwicklung auf dem Wortgut, dem phonologischcn und grammatischen Fundament der mit-iclaltcrhchen deutschen TerTitorialdialekte. sie knьpfte an eine Ьbergangs­form vom Dialekt zur gemeindeutschen Literatursprache, den sog. landschaft­lichen (regionalen) Literatursprachen des Spьtmittelaltcrs. Der Prozess der Herausbildung einer gemeindeutschen Nationalsprache nahm einige Jahr­hunderte (von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jh.) in Anspruch, und auch heute noch leben die allen deutschen Territonaldialekte in den Resten der Dorfmundarten sowie in der mundartlich gefдrbten landschaftlichen Umgangssprache fort.