
- •А. В. Кожикова
- •Учебное пособие для студентов IV – V курсов
- •Vorlesung 1 literatur der bundesrepublik deutschland
- •Inventur
- •Vorlesung 2 literatur der deutschen demokratischen republik (ddr)
- •Vorlesung 3 literatur im wiedervereinigten deutschland (seit 1990)
- •Vorlesung 4 literatur osterreichs seit 1945
- •Vorlesung 5 literatur der deutschsprachigen schweiz seit 1945
- •21 Punkte zu den Physikern
- •Inhaltsverzeichnis
- •Анна Владимировна кожикова
- •Курс лекций по литературе германии,
- •Австрии и швейцарии XX века
- •Учебное пособие
- •162600, Г. Череповец, пр. Луначарского, 5.
Vorlesung 5 literatur der deutschsprachigen schweiz seit 1945
Die Schweiz ist ein viersprachiges Land, in dem deutsch, französisch, italienisch und rätoromanisch gesprochen wird. Bis auf die Literatur in rätoromanischer Sprache kann man die Schweizer Literatur jeweils im Zusammenhang mit dem gleichsprachigen Nachbarland sehen. Der Beitrag der Schweiz zur deutschsprachigen Literatur reicht bis in die Anfänge der schriftlichen Fixierung der Dichtung zurück: Berühmt sind die Übersetzungen des St. Galler Mönchs Notker Labeo (950 – 1022) aus der lateinischen Sprache in alemannische Mundart. Im 18. Jh. führten Bodmer und Breitinger ihren Literaturstreit mit Gottsched. Gessners Idyllen und Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente (1775 – 1778) sind genauso bekannt wie Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen (1732), das die schweizerische Landschaft als Rahmen für eine kulturkritische Betrachtung benutzt. Im 19. Jh. trugen J. Gotthelf, G. Keller und С F. Meyer maßgeblich zur deutschsprachigen Literatur bei. Robert Walsers (1878 – 1956) Romane und Feuilletons entstanden in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jhs. Sie wurden zu dieser Zeit kaum beachtet, erleben aber seit den 70er Jahren eine Renaissance. Das gilt beispielsweise für seinen teilweise autobiographischen Roman Der Gehülfe (1908), einen „Auszug aus dem schweizerischen Leben“ und sein Tagebuch des Internatszöglings Jakob von Gunten (1909), das von Walsers Aufenthalt in einer Dienerschule berichtet. An den Literaturversuchen junger Autoren, die gegen ihre Vorgänger rebellierten und etwas Neues schaffen wollten (Sturm und Drang, Romantik, Naturalismus, Expressionismus), waren Schweizer Autoren kaum beteiligt.
Um 1916 entstand in Zürich ein Zentrum des Dadaismus. Während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und in Ősterreich wurde die Schweiz zum ersten Fluchtziel für viele deutsche Schriftsteller, Schauspieler, Journalisten und Wissenschaftler. Vorher hatten die Schweizer Intellektuellen ihren Wirkungskreis auch in Deutschland gehabt – nun mussten sie sich den kleinen schweizerischen Markt mit deutschen Intellektuellen teilen. Zürich wurde zum Mittelpunkt des Theaters und des Kabaretts.
Nach 1945 war die Situation der Schweiz völlig anders als die der übrigen europäischen Länder. Die Schweiz hatte am Zweiten Weltkrieg nicht teilgenommen, sie war neutral geblieben. Doch ihre zentrale geographische Lage erforderte nun die Auseinandersetzung mit den Problemen der Nachkriegszeit.
Die Nachkriegsliteratur erfuhr von zwei Schweizer Autoren wesentliche Impulse: von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Beide gehören der Generation an, die die politische Entwicklung Deutschlands bis zum Zweiten Weltkrieg bewusst verfolgen konnte. Sie traten aber erst Ende der 50er Jahre mit politisch engagierten Werken an die Őffentlichkeit.
Der Erzähler und Dramatiker Max Frisch wird schon jetzt als „Klassiker der Moderne" bezeichnet. Seine Romane und Theaterstücke wur- den in viele Sprachen übersetzt. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm Frisch mehrere Reisen durch Deutschland, Polen, die Tschechoslowakei und Osterreich. Sein Tagebuch 1946-1949 (1950) gibt Zeugnis von seinen Erfahrungen auf diesen Reisen. In knapper Diktion werden hier private Aufzeichnungen mit Reflexionen über Politik und Literatur kombiniert. Das Tagebuch ist von Anfang an für die Őffentlichkeit geschrieben; in der Vorbemerkung heißt es:
einmal angenommen, dass es ihn [den Leser] gibt, dass jemand ein Interesse hat, diesen Aufzeichnungen und Skizzen eines jüngeren Zeitgenossen zu folgen, dessen Schreibrecht niemals in seiner Person, nur in seiner Zeitgenossenschaft begründet sein kann, vielleicht auch in seiner besonderen Lage als Verschonter, der außerhalb der nationalen Lager steht.
Zwischen diesem Tagebuch und seinen späteren Werken kann man viele Parallelen ziehen; Frischs wichtigste Themen wurden hier schon angesprochen: Die Frage, wie ein Mensch seine Identität finden und vor allem, wie er sie bewahren kann, ist das zentrale Thema von Frischs erstem Roman Stiller (1954). Gleich der erste Satz „Ich bin nicht Stiller“ führt mitten in die Problematik hinein. Es geht um die Frage nach dem Bild, das sich seine Umgebung von ihm entwirft. Jim White kommt aus Amerika in die Schweiz zurück und wird an der Grenze verhaftet, weil man ihn für den Bildhauer Anatol Stiller halt. Stiller wird seit einigen Jahren vermisst, er soll in eine Agentenaffäre verwickelt gewesen sein. White leugnet, Stiller zu sein. Seine Frau Julika und seine Freunde versuchen, ihm seine Identität als Stiller zu beweisen. Der Roman besteht zum großen Teil aus Tagebuchaufzeichnungen Stillers/Whites; daneben baute Frisch Skizzen, Parabeln, Märchenhaftes sowie lyrische und dramatische Elemente ein. Auch die Problemstellung des Romans Homo Faber (1957) ist im Tagebuch 1946 – 1949 bereits genannt. Der Techniker Walter Faber, dem nichts auf der Welt ein Rätsel ist, der alles mathematisch errechnen kann, verliebt sich in ein junges Mädchen und folgt ihm bis nach Griechenland, wo er ihren Tod verschuldet. Erst nach dem Unglücksfall erfährt Faber, dass das Mädchen Sabeth seine Tochter war. Neben Max Frisch ist der Dramatiker F. Dürrenmatt wichtigster Repräsentant der Schweizer Literatur. Seine Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi wurde 1952 in München uraufgeführt. Sie benutzt Elemente der Kriminalkomödie, spielt in einem Biedermeierzimmer und behandelt die Gegenwart. Florestan Mississippi ist ein fanatischer Kampfer für die Gerechtigkeit, für die er sogar Verbrechen begeht. Dürrenmatts Romane Der Richter und sein Henker (1952) und Der Verdacht (1953) sind leicht lesbare und spannungsgeladene Kriminalromane. Beide haben einen aktuellen Hintergrund. Der Verdacht thematisiert die Vermutung des Detektivs Barlach, der Leiter eines Zürcher Sanatoriums sei Arzt in einem Konzentrationslager gewesen. Der Besuch der alten Dame, eine „tragische Komödie in drei Akten“, erschien 1956. In diesem Stuck spielt die Gemeinde, der „Kleinstaat“, eine wichtige Rolle; deswegen hat man es als ein sehr schweizerisches Stück bezeichnet. Das verarmte Dorf Güllen wird von einer amerikanischen Milliardärin besucht, die in diesem Dorf geboren wurde. Sie bietet der Gemeinde finanzielle Hilfe, fordert dafür aber den Tod ihres Jugendgeliebten. Er schickte sie vor vielen Jahren fort, als sie ein Kind von ihm erwartete. In Güllen wird dieser Handel zunächst entrüstet abgelehnt, dann siegt aber doch das Geld über die Moral. Der Jugendgeliebte ist zum Schluss derjenige, der sich opfert. Eugen Gomringer wurde in den 50er Jahren bekannt für seine „konkrete Poesie“. Diese Gedichtform sollte als ,,Gebrauchsgegenstand“ den Leser unmittelbar ansprechen und sofort verständlich sein: der heutige Mensch will rasch verstehen und rasch verstanden werden. Gomringer wollte eine Neubestimmung der Funktion des Dichters und der Dichtung in der Gesellschaft provozieren. Das neue Gedicht ist in den Teilen und als Ganzes überschaubar und auf wesentliche, knappe Formen reduziert. Die „konkrete Poesie" kann verschiedene Formen haben. Die Gedichte können rein akustisch oder visuell wirken, können Spielerei mit syntaktischen Formen sein oder sinnvolle Satzkonstruktionen neu kombinieren:
das schwarze geheimnis
ist hier
hier ist
das schwarze geheimnis
Gomringer sprach – in Anlehnung an den französischen Lyriker Mallarme (1842 – 1898) – von „konstellationen“, die den Raum des Gedichts, das Blatt Papier, miteinbeziehen und dabei neue Assozia-tionsmöglichkeiten schaffen. In seinem programmatischen Aufsatz vom vers zur konstellation (1954) heißt es:
die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung.
Gomringer beeinflusste die Wiener Autoren H. C. Artmann und G. Rühm, die ebenfalls Mitte der 50er Jahre eine neue Lyrik vorstellten. Dazu gehört auch das Werk der Lyrikerin Erika Burkart (*1922). Es umfasst in thematischer Geschlossenheit die Vorstellung der Einheit von Ich und Natur. In ihren 1964 erschienenen Gedichten Ich lebe heißt es: „Gedichte sind Grade des Schweigens“. Hier geht es nicht um einen unproduktiven Zustand, sondern um die sensible Aufnahme der wortlosen Sprache der Natur.
Anfang der 60er Jahre traten Frisch und Dürrenmatt mit gegenwarts-bezogenen Stücken an die Őffentlichkeit und leiteten damit eine neue – engagierte – Phase der Literatur ein. Andorra. Ein Stück in 12 Bildern (1961) von Max Frisch stellt an einem Modellfall das biblische Gebot ,,Du sollst dir kein Bildnis machen“ auf sehr konkrete Weise dar: Andri wächst als Adoptivsohn bei einem Lehrer im Modellstaat Andorra auf. Er soll das Kind jüdischer Eltern sein. Nur der Lehrer weiß, dass Andri in Wirklichkeit sein unehelicher Sohn ist. Andri wird verachtet, die Leute entdecken an ihm „typisch jüdische Eigenschaften“. Er kann sich gegen diese Feindseligkeiten nicht wehren und sieht sich schließlich selbst als Außenseiter. Andri muss als Jude, der er nicht ist, sterben. Frisch hatte in seinem Tagebuch 1946 – 1949 bereits eine Prosafassung dieses mehrfach umgearbeiteten Stoffes veröffentlicht.
Dürrenmatt ging es in seiner „Komödie in zwei Akten“ Die Physiker (1962) um die Verantwortung der Wissenschaftler vor der Menschheit. Der Physiker Möbius, ein naturwissenschaftliches Genie, hat sich in eine Irrenanstalt zurückgezogen und hat die Aufzeichnungen seiner Entdeckungen auf dem Gebiet der Kernphysik verbrannt, damit sie nicht zur Vernichtung der Menschheit missbraucht werden konnten. Zwei Agenten, in Wahrheit auch Physiker, sind Möbius auf der Spur, sie tarnen sich ebenfalls im Wahnsinn. Der eine nennt sich Newton, der andere Einstein. Die Krankenschwestern, die Verdacht schöpfen, werden ermordet. Zum Schluss erklärt die Leiterin der Anstalt, sie habe alle Unterlagen kopiert, bevor Möbius sie verbrannte, die Physiker seien ihre Gefangenen. Sie können den Missbrauch ihrer Forschungsergebnisse nicht mehr verhindern. Die wirklich Verrückte ist also die Leiterin der Irrenanstalt. Dürrenmatt erläuterte sein Stück in den folgenden 21 Punkten: