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Stefan_Zweig_-_Ungeduld_des_Herzens.doc
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Ich warte. Was meint er? Was tut sie ihnen an? Was denn? Rück endlich heraus! Warum redest du so täuscherisch herum, warum sagst du nicht gerade heraus, was los ist?

Aber der alte Mann starrt leer auf den Tisch. »Und dabei war doch alles besprochen, alles schon vorbereitet. Der Schlafwagen bestellt, die schönsten Zimmer reserviert, und gestern nachmittag war sie noch voll Ungeduld. Sie hatte sich selbst die Bücher ausgesucht, die sie mitnehmen wollte, hat die neuen Kleider und den Pelz probiert, die ich aus Wien hab kommen lassen; und mit einmal ist das in sie gefahren, ich versteh's nicht, gestern abends nach dem Essen — Sie erinnern sich ja, wie sie erregt war. Ilona versteht's nicht und niemand versteht's, was plötzlich über sie gekommen ist. Aber sie sagt und schreit und schwört, um keinen Preis werde sie wegfahren, keine Macht der Erde könne sie fortbringen. Sie bleibt, sie bleibt, sie bleibt, sagt sie, und wenn man ihr das Haus über dem Kopf anzündet. Sie mache den Schwindel nicht mit, sie lasse sich nicht betrügen, sagt sie. Nur weghaben wolle man sie mit dieser Kur, nur sie los sein. Aber wir alle würden uns irren, wir alle. Sie fährt einfach nicht weg, sie bleibt, sie bleibt, sie bleibt.«

Mich überläuft's kalt. Das also steckte hinter dem zornigen Lachen von gestern. Hat sie bemerkt, daß ich nicht weiter kann, und inszeniert sie das, damit ich ihr verspreche, doch in die Schweiz nachzukommen?

Aber: nicht dich einlassen, befehle ich mir. Nicht zeigen, daß es dich erregt! Dem alten Mann nicht verraten, daß ihr Dableiben dir die Nerven zerreißt! So stelle ich mich mit Absicht töricht und äußere ziemlich gleichgültig:

»Ach, das wird sich schon geben! Sie wissen doch am besten, wie wetterwendisch bei ihr die Launen umspringen. Und Ilona hat mir ja telephoniert, es handle sich nur um einen Aufschub von ein paar Tagen.«

Der alte Mann seufzt, und dieser Seufzer bricht dumpf aus ihm wie ein Erbrechen; es ist, als risse dieser jähe Aufstoß ihm die letzte Kraft aus der Brust.

»Ach Gott, wenn das nur so wäre! Aber das Schreckliche ist, daß ich fürchte ... wir fürchten alle, daß sie überhaupt nicht mehr wegreisen wird... Ich weiß nicht, ich versteh's nicht — auf einmal ist ihr die Kur gleichgültig geworden und ob sie geheilt wird oder nicht. ,Ich laß mich nicht länger quälen, ich laß nicht mehr an mir herumkurieren, es hat alles keinen Sinn!' Solche Dinge sagt sie; sagt sie so, daß einem das Herz stillsteht. ,Ich laß mich nicht mehr betrügen', schreit und schluchzt sie, ‚alles durchschaue ich, alles durchschaue ich... alles!'«

Ich überlege rasch. Um Gottes willen, hat sie etwas bemerkt? Habe ich mich verraten? Hat Condor eine Unvorsichtigkeit begangen? Konnte sie aus einer achtlosen Bemerkung Verdacht schöpfen, daß mit dieser Schweizer Kur nicht alles stimmt? Hat ihre Hellsichtigkeit, ihre furchtbar mißtrauische Hellsichtigkeit am Ende durchschaut, daß wir sie eigentlich zwecklos wegschicken? Vorsichtig taste ich mich heran.

»Das verstehe ich nicht — Ihr Fräulein Tochter hatte doch sonst unbedingtes Vertrauen zu Doktor Condor, und wenn er ihr diese Kur so dringend anempfohlen hat — dann verstehe ich das einfach nicht.«

»Ja, aber das ist es ja! ... Das ist ja der Wahnsinn: sie will überhaupt keine Kur mehr machen, sie will gar nicht mehr geheilt werden! Wissen Sie, was sie gesagt hat? ... ,Um keinen Preis fahr ich weg, ich hab die Lügnerei satt! ... Lieber der Krüppel bleiben, der ich bin, und dableiben ... ich will nicht mehr geheilt werden, ich will nicht, das hat alles keinen Sinn mehr.'«

»Keinen Sinn?« wiederhole ich ganz ratlos.

Aber da senkt der alte Mann den Kopf noch tiefer, ich sehe seine schwimmenden Augen, ich sehe die Brille nicht mehr. Nur an dem dünnen flattrigen weißen Haar merke ich, daß er heftig zu zittern begonnen hat. Dann murmelt er beinahe unverständlich:

»,Es hat keinen Sinn mehr, daß ich geheilt werde', sagt sie und schluchzt sie, ‚denn er... er ...'«

Der alte Mann schöpft Atem wie vor einer großen Anstrengung. Dann stößt er endlich heraus »,Er ... er hat ja doch nichts als Mitleid für mich.'«

Eiskalt wird mir mit einem Mal, wie Kekesfalva dieses Wort »er« ausspricht. Es ist das erste Mal, daß er zu mir eine Andeutung über das Gefühl seiner Tochter macht. Schon lange war mir aufgefallen, daß er mich zusehends mied, ja daß er kaum wagte, mich anzublicken, während er sich doch vordem so zart und dringlich um mich bemüht hatte. Aber ich wußte, daß es Scham war, die ihn von mir weghielt; schrecklich mußte es doch für diesen alten Mann gewesen sein, mitanzusehen, wie seine Tochter um einen Menschen warb, der vor ihr flüchtete. Entsetzlich gequält mußten ihn ihre geheimen Geständnisse haben, maßlos beschämt ihr unverhohlenes Verlangen. Auch er hatte, wie ich selbst, die Unbefangenheit verloren. Wer etwas verbirgt oder verbergen muß, verliert den offenen und freien Blick.

Aber jetzt war es ausgesprochen und derselbe Schlag uns beiden aufs Herz gefallen. Beide sitzen wir nach diesem einen verräterischen Wort stumm und vermeiden, einer den andern anzublicken. In dem schmalen Raum über dem Tisch zwischen uns steht ein Schweigen in der starren Luft. Aber allmählich dehnt sich dieses Schweigen; wie ein schwarzes Gas schwillt es auf bis zur Decke und füllt das ganze Zimmer; von oben, von unten, von allen Seiten drückt und drängt diese Leere auf uns ein, und ich höre an den gepreßten Stößen seines Atems, wie sehr das Schweigen ihm die Kehle würgt. Ein Augenblick noch, und dieser Druck muß uns beide ersticken oder einer von uns muß auffahren und sie mit einem Wort zerschlagen, diese drückende, diese mörderische Leere.

Da plötzlich geschieht etwas: ich merke zuerst nur, daß er eine Bewegung macht, eine merkwürdig plumpe und ungeschickte Bewegung. Und dann, daß der alte Mann jählings wie eine weiche Masse vom Sessel niederfällt. Hinter ihm poltert und stürzt krachend der Stuhl.

Ein Anfall, ist mein erster Gedanke. Ein Schlaganfall, er ist ja herzkrank, Condor hat es mir gesagt. Entsetzt springe ich hin, um ihm aufzuhelfen und ihn auf das Sofa zu betten. Aber in diesem Moment gewahre ich — der alte Mann ist gar nicht gestürzt, gar nicht herabgefallen vom Sessel. Er hat sich selber herabgestoßen. Er ist — im ersten erregten Zuspringen war dies mir völlig entgangen — absichtlich in die Knie gesunken und jetzt, da ich ihn aufheben will, rutscht er näher heran, packt meine Hände und bettelt:

»Sie müssen ihr helfen ... nur Sie können ihr helfen, nur Sie ... auch Condor sagt es: nur Sie und kein anderer! ... ich flehe Sie an, erbarmen Sie sich ... es geht nicht so weiter ... sie tut sich sonst etwas an, sie richtet sich selbst zugrunde.«

So sehr mir die Hände beben, ich reiße den Hingeknieten gewaltsam wieder empor. Aber er packt meine helfenden Arme, wie Krallen spüre ich die verzweifelt angepreßten Finger in meinem Fleisch — der Djinn, der Djinn meines Traums, der den Mitleidigen vergewaltigt. »Helfen Sie ihr«, keucht er. »Um Himmels willen, helfen Sie ihr ... Man kann das Kind doch nicht in diesem Zustand hassen ... es geht, ich schwör es Ihnen, um Leben und Tod ... Sie können sich nicht vorstellen, was für unsinnige Dinge sie in ihrer Verzweiflung sagt... Sie müsse sich wegschaffen, sich aus dem Weg räumen, schluchzt sie, damit Sie Ruhe hätten und wir alle endlich Ruhe vor ihr ... Und das sagt sie nicht nur so, das ist furchtbar ernst bei ihr ... Zweimal hat sie's schon versucht, die Pulsadern hat sie sich aufgeschnitten und das andere Mal mit dem Schlafmittel. Wenn sie einmal etwas will, dann kann sie niemand mehr davon abbringen, niemand ... nur Sie können sie jetzt retten, nur Sie ... ich schwöre es Ihnen, nur Sie allein ...«

»Aber selbstverständlich, Herr von Kekesfalva ... bitte beruhigen Sie sich nur ... es ist doch selbstverständlich, daß ich alles tue, was mir möglich ist. Wenn Sie wollen, fahren wir jetzt sofort hinaus und ich versuche, ihr zuzureden. Sofort fahre ich mit Ihnen. Bestimmen Sie selbst, was ich ihr sagen soll, was ich tun soll...«

Er ließ plötzlich meinen Arm los und starrte mich an. »Was Sie tun sollen? ... Verstehen Sie denn wirklich nicht oder wollen Sie nicht verstehen? Sie hat sich Ihnen doch aufgeschlossen, sich Ihnen angeboten, und schämt sich jetzt zu Tod, daß sie's getan hat. Sie hat Ihnen geschrieben, und Sie haben ihr nicht geantwortet, und jetzt quält sie sich Tag und Nacht, daß Sie sie wegschicken lassen, sie loswerden wollen, weil Sie sie verachten ... sie ist ganz irr vor Angst, daß Sie sich ekeln vor ihr ... weil sie ... weil sie ... Verstehen Sie denn nicht, daß das einen Menschen zugrunde richten muß, einen so stolzen, einen so leidenschaftlichen Menschen wie dieses Kind, wenn man ihn so warten läßt? Warum geben Sie ihr nicht etwas Zuversicht? Warum sagen Sie ihr nicht ein Wort, warum sind Sie so grausam, so herzlos zu ihr? Warum quälen Sie dieses arme, dieses unschuldige Kind so fürchterlich?«

»Aber ich habe doch alles getan, um sie zu beruhigen ... ich habe ihr doch gesagt...«

»Nichts haben Sie ihr gesagt! Sie müssen doch selbst merken, daß Sie sie toll machen mit Ihrem Kommen, mit Ihrem Schweigen, weil sie nur wartet auf eines ... auf das eine Wort, das jede Frau erwartet von dem Mann, den sie liebt ... Sie hätte doch nie etwas zu hoffen gewagt, solange sie noch so hinfällig war... Aber jetzt, da sie doch bestimmt gesund wird, ganz, ganz gesund in ein paar Wochen, warum soll sie da nicht dasselbe erwarten wie jedes andere junge Mädchen, warum nicht... sie hat es Ihnen doch gezeigt, gesagt, wie ungeduldig sie wartet auf ein Wort von Ihnen ... Sie kann doch nicht mehr tun, als sie getan hat ... sie kann doch nicht betteln vor Ihnen ... und Sie, Sie sagen kein Wort, sagen nicht das Einzige, was sie glücklich machen kann! ... Ist es Ihnen denn wirklich so entsetzlich? Sie würden doch alles haben, was ein Mensch auf Erden haben kann. Ich bin ein alter, ein kranker Mann. Alles, was ich besitze, werd ich euch hinterlassen, das Schloß und das Gut und die sechs oder sieben Millionen, die ich zusammengetragen habe in vierzig Jahren ... alles wird Ihnen gehören ... morgen können Sie es schon haben, jeden Tag, jede Stunde, ich will doch selber nichts mehr ... ich will nur, daß jemand für das Kind sorgt, wenn ich nicht mehr da bin. Und ich weiß, Sie sind ein guter Mensch, ein anständiger Mensch, Sie werden sie schonen, Sie werden gut zu ihr sein!«

Der Atem versagte ihm. Wehrlos, kraftlos sank er wieder hin auf den Sessel. Aber auch ich hatte meine Kraft verbraucht, auch ich war erschöpft und fiel hin in den anderen Stuhl. Und so saßen wir genau wie früher einander gegenüber, wortlos, blicklos, ich weiß nicht, wie lange. Nur manchmal spürte ich, wie der Tisch, an den er sich ankrampfte, leicht schütterte von dem jähen Zucken, das seinen Körper überlief. Dann vernahm ich — abermals war unmeßbare Zeit vergangen — einen trockenen Ton, wie wenn Hartes auf Hartes fällt. Seine niedergebeugte Stirn war hingesunken auf die Tischplatte. Ich spürte, wie dieser Mensch litt, und unermeßlich wurde in mir das Bedürfnis, ihn zu trösten.

»Herr von Kekesfalva«, beugte ich mich über ihn. »Haben Sie doch Vertrauen zu mir ... wir wollen alles überlegen, in Ruhe überlegen ... ich wiederhole Ihnen, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung ... ich werde alles tun, was in meiner Macht steht ... Nur das ... was Sie mir vorhin andeuteten ... das ist... das ist unmöglich... völlig unmöglich.«

Er zuckte schwach wie ein schon niedergebrochenes Tier unter dem letzten tödlichen Hieb. Seine von der Erregung leicht angespeichelten Lippen bewegten sich angestrengt, aber ich ließ ihm keine Zeit.

»Es ist unmöglich, Herr von Kekesfalva, bitte sprechen wir nicht weiter ... überlegen Sie doch selbst... wer bin ich denn? Ein kleiner Leutnant, der von seiner Gage lebt und seinem kleinen Monatszuschuß ... mit solchen beschränkten Mitteln kann man sich doch keine Existenz aufbauen, davon kann man doch nicht leben, zu zweit leben...«

Er wollte unterbrechen.

»Ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Herr von Kekesfalva. Geld spielt keine Rolle, meinen Sie, dafür wäre gesorgt. Und ich weiß auch, daß Sie reich sind und ... daß ich alles von Ihnen haben könnte ... Aber gerade, daß Sie so reich sind und ich ein Nichts, ein Niemand ... gerade das macht doch alles unmöglich ... Jeder würde meinen, ich hätte es nur wegen des Geldes getan, ich hätte mich ... und auch Edith selbst, glauben Sie mir, würde ihr ganzes Leben nicht von dem Verdacht loskommen, nur wegen des Geldes hätte ich sie genommen und trotz ... trotz der besonderen Umstände ... Glauben Sie mir, Herr von Kekesfalva, es ist unmöglich, so redlich, so aufrichtig ich Ihre Tochter schätze und ... und ... und gern habe ... aber das müssen Sie'doch verstehen.«

Der alte Mann blieb unbeweglich. Zuerst meinte ich, er hätte gar nicht begriffen, was ich sagte. Aber allmählich ging eine Bewegung durch seinen kraftlosen Körper. Mühsam hob er den Kopf und starrte vor sich hin ins Leere. Dann griff er mit beiden Händen an die Tischkante, und ich merkte, er wollte den lastenden Körper aufstemmen, er wollte aufstehen, jedoch es gelang ihm nicht gleich. Zweimal, dreimal versagte ihm die Kraft. Endlich arbeitete er sich hoch und stand, schwankend noch von der Anstrengung, dunkel im Dunkel, die Pupillen starr wie schwarzes Glas. Dann sagte er mit einem ganz fremden, einem grauenhaft gleichgültigen Ton, als ob seine eigene, seine menschliche Stimme ihm gestorben wäre, vor sich hin:

»Dann ... dann ist eben alles vorbei.«

Entsetzlich war dieser Ton, entsetzlich dies völlige Sichaufgeben. Noch immer den Blick starr ins Leere gerichtet, tappte er, ohne niederzuschauen, mit der Hand die Tischplatte entlang nach der Brille. Aber er stülpte sie nicht vor die steinernen Augen — wozu noch sehen? wozu noch leben? — sondern stopfte sie ungelenk in die Tasche. Abermals wanderten die bläulichen Finger (in denen Condor den Tod gesehen) rings um den Tisch, bis sie am Rande endlich auch den schwarzen zerknüllten Hut ertasteten. Dann erst wandte er sich zum Gehen und murmelte, ohne mich anzuschauen:

»Verzeihen Sie die Störung.«

Er hatte sich den Hut schief auf den Kopf gestülpt; die Füße gehorchten ihm nicht recht, sie schlurften und schwankten ohne Kraft. Wie ein Schlafwandler taumelte er weiter, der Tür zu. Dann, als ob er sich plötzlich an etwas erinnert hätte, nahm er den Hut ab, verbeugte sich und wiederholte:

»Verzeihen Sie die Störung.«

Er verbeugte sich vor mir, der alte geschlagene Mann, und gerade diese Geste der Höflichkeit inmitten seiner Verstörung zernichtete mich. Plötzlich spürte ich es wieder in mir, dies Warme, dies Heiße, dies Quellende, dies Strömende, das aufstieg und mir bis in die Augen brannte, und gleichzeitig jenes Weichwerden und Schwachwerden: abermals fühlte ich mich vom Mitleid übermannt. Ich konnte ihn doch nicht so fortlassen, den alten Mann, der gekommen war, um mir sein Kind, sein Einzigstes auf Erden anzubieten, nicht fortlassen in die Verzweiflung, in den Tod. Ich konnte ihm doch nicht das Leben aus dem Leibe reißen. Ich mußte noch etwas sagen, etwas Tröstliches, Beruhigendes, Beschwichtigendes. So eilte ich ihm hastig nach.

»Herr von Kekesfalva, bitte, mißverstehen Sie mich doch nicht... Sie dürfen keinesfalls so fortgehen und ihr am Ende sagen ... das wäre ja furchtbar in diesem Augenblick für sie und ... und es wäre auch gar nicht wahr.«

Immer heftiger wurde meine Erregung, denn ich spürte, daß der alte Mann mich gar nicht anhörte. Eine Salzsäule seiner Verzweiflung, stand er starr, ein Schatten im Schatten, ein lebendiger Tod. Immer leidenschaftlicher wurde mein Bedürfnis, ihn zu beruhigen.

»Es wäre wirklich nicht wahr, Herr von Kekesfalva, ich schwöre es Ihnen ... und nichts wäre mir so schrecklich, als Ihre Tochter, als Edith zu ... kränken oder ... oder in ihr das Gefühl aufkommen zu lassen, ich hätte sie nicht aufrichtig gern ... niemand empfindet doch herzlicher für sie, ich schwöre es Ihnen, niemand kann sie lieber haben als ich ... es ist wirklich nur ein Wahn von ihr, daß ... sie mir gleichgültig ist ... im Gegenteil ... im Gegenteil ... ich meinte doch bloß, es hätte keinen Sinn, wenn ich jetzt... wenn ich heute etwas sagte ... zunächst ist nur eines wichtig ... daß sie sich schont... daß sie wirklich geheilt wird!«

»Aber dann ... wenn sie geheilt ist...?« Er hatte sich mir plötzlich zugewandt. Die Pupillen, eben noch starr und tot, phosphoreszierten im Dunkel.

Ich erschrak. Ich spürte instinktiv die Gefahr. Wenn ich jetzt etwas versprach, war ich verpflichtet. Aber in diesem Augenblick fiel mir ein: es ist doch alles Täuschung, was sie erhofft. Sie wird doch auf keinen Fall sofort geheilt. Es kann noch Jahre dauern und Jahre; nicht zu weit denken, hat Condor gesagt, nur sie jetzt beruhigen, sie trösten! Warum ihr nicht etwas Hoffnung lassen, warum sie nicht glücklich machen, wenigstens für eine kurze Frist? Und so sagte ich:

»Ja, wenn sie geheilt ist, dann natürlich ... dann wäre ich doch ... doch selbst zu Ihnen gekommen.«

Er starrte mich an. Ein Zittern ging durch seinen Körper; es war, als ob eine innere Kraft ihn unmerklich heranschöbe.

»Darf ich ... darf ich ihr das sagen?«

Wieder spürte ich das Gefährliche. Aber ich hatte nicht mehr die Kraft, seinem flehenden Blick zu widerstehen. So erwiderte ich in festem Ton:

»Ja, sagen Sie es ihr«, und reichte ihm die Hand.

Seine Augen funkelten, sie füllten sich, sie strömten mir entgegen. So muß Lazarus geblickt haben, als er betäubt emporstieg aus seinem Grabe und wieder den Himmel sah und sein heiliges Licht. Ich spürte seine Hand in der meinen zittern, immer stärker zittern. Dann begann sich die Stirn niederzubeugen, tiefer und tiefer. Rechtzeitig noch erinnerte ich mich, wie er sich damals niedergebückt und mir die Hand geküßt hatte. Hastig riß ich die meine zurück und wiederholte:

»Ja, sagen Sie es ihr, bitte sagen Sie es ihr: sie soll ohne Sorge sein. Und eines vor allem: gesund werden, bald gesund, für sich, für uns alle!«

»Ja«, wiederholte er ekstatisch, »gesund, bald gesund. Sofort wird sie jetzt reisen, oh, ich bin ganz sicher. Sofort wird sie abreisen und gesund werden, durch Sie gesund, für Sie gesund ... von der ersten Stunde an habe ich gewußt, Gott hat Sie mir geschickt ... nein, nein, ich kann Ihnen nicht danken ... Gott soll es Ihnen lohnen... Ich geh schon — nein, bleiben Sie, bemühen Sie sich nicht, ich geh schon.«

Und mit einem anderen Schritt, den ich an ihm nicht kannte, einem leichten, federnden Schritt lief er mit seinen wehenden schwarzen Schößen zur Tür. Sie schlug hinter ihm zu mit einem hellen, fast fröhlichen Ton. Ich stand allein im dunkeln Zimmer, leicht bestürzt, wie allemal, wenn man etwas Entscheidendes getan, ohne sich vorher innerlich entschieden zu haben. Aber was ich in der Schwachmütigkeit meines Mitleids eigentlich versprochen, wurde mir erst eine Stunde später in seiner ganzen Verantwortlichkeit bewußt, als mein Bursche, schüchtern anklopfend, mir einen Brief brachte, blaues Papier, wohlbekannten Formats:

»Wir reisen übermorgen. Ich habe es Papa in die Hand versprochen. Verzeihen Sie mir die letzten Tage, aber ich war ganz verstört von der Angst, ich sei Ihnen eine Last. Nun weiß ich, wozu und für wen ich gesund werden muß. Jetzt fürchte ich nichts mehr. Kommen Sie morgen möglichst früh. Nie habe ich Sie ungeduldiger erwartet. Immer Ihre E.«

»Immer« — ich fühlte einen jähen Schauer bei diesem Wort, das unwiderruflich und für alle Ewigkeit einen Menschen bindet. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Wieder einmal war mein Mitleid stärker gewesen als mein Wille. Ich hatte mich weggegeben. Ich gehörte mir selber nicht mehr.

Raff dich zusammen, sagte ich mir. Das war das Letzte, was sie dir abringen konnten, dies halbe Versprechen, das sich doch nie ganz erfüllen wird. Einen Tag noch, zwei Tage mußt du dieser unsinnigen Liebe geduldig dich gewähren, dann reisen sie ab, und du hast dich selbst wieder zurückgewonnen. Aber je näher der Nachmittag heranrückte, um so kribbliger wurde mein Unbehagen, immer quälender der Gedanke, mit einer Lüge im Herzen ihren gläubigzärtlichen Blick zu bestehen. Vergebens, daß ich mich bemühte, mit den Kameraden locker zu plaudern, zu deutlich spürte ich das Ticken hinter der Stirnhaut, das Flackern in den Nerven und eine plötzliche Trockenheit im Gaumen, als ob innen ein ersticktes Feuer qualmte und schwelte. Rein instinktiv bestellte ich einen Kognak und stürzte ihn hinab. Es half nichts, die Trockenheit würgte weiter die Kehle. So bestellte ich einen zweiten; erst als ich den dritten verlangte, entdeckte ich den unbewußten Antrieb: ich wollte mir Mut antrinken, um dort draußen nicht feig zu werden oder sentimental. Etwas in mir wollte ich vorher chloroformieren, vielleicht die Furcht, vielleicht die Scham, vielleicht ein sehr gutes, vielleicht ein sehr schlimmes Gefühl. Ja, das war es, nur das — darum teilte man ja Soldaten die doppelte Branntweinration zu vor dem Sturm — ich wollte mich dumpf machen und stumpf, um das Bedenkliche und vielleicht Gefährliche, dem ich entgegenging, nicht so deutlich zu empfinden. Jedoch die erste Wirkung dieser drei Gläser äußerte sich einzig darin, daß mir die Füße schwer wurden und im Kopf etwas surrte und bohrte wie die Maschine eines Zahnarzts, ehe sie ansetzt zum eigentlichen schmerzhaften Stoß. Es war kein sicherer, kein klarer und am allerwenigsten ein freudiger Mensch, der da die lange Chaussee — oder schien sie mir nur diesmal so endlos? — mit hämmerndem Herzen hinauszögerte zu dem gefürchteten Haus.

Alles aber fügte sich leichter, als ich gedacht. Eine andere, eine bessere Betäubung erwartete mich, eine feinere, eine reinere Trunkenheit, als ich sie im groben Fusel gesucht. Denn auch Eitelkeit betört, auch Dankbarkeit betäubt, auch Zärtlichkeit kann beseligend verwirren. An der Tür schrak der alte brave Josef ganz beglückt auf — »Oh, der Herr Leutnant!« — er schluckte, trat vor Erregung von einem Fuß auf den andern und sah zwischendurch verstohlen empor — ich kann es nicht anders sagen — wie man aufblickt in der Kirche zu einem Heiligenbild. »Bitte kommen Herr Leutnant gleich hinüber in den Salon! Fräulein Edith erwarten Herrn Leutnant schon die ganze Zeit«, flüsterte er im aufgeregten Ton einer verschämten Begeisterung.

Ich fragte und staunte: warum sieht dieser fremde Mensch, dieser alte Lakai mich so ekstatisch an? Warum liebt er mich so? Macht es wirklich die Menschen schon gut und glücklich, wenn sie bei andern Güte und Mitleid sehen? Ja, dann behielte Condor recht, dann hätte wirklich, wer auch nur einem einzigen Menschen hilft, den Sinn seines Lebens erfüllt, dann lohnte es wahrhaftig, andern sich hinzugeben bis ans Ende seiner Kraft und sogar über seine Kraft. Dann wäre jedes Opfer gerecht und selbst eine Lüge, die andere glücklich macht, wichtiger als alle Wahrheit. Mit einmal spürte ich meinen Fuß sicher bis zur Sohle hinab; anders schreitet der Mensch, wenn er weiß, daß er Freude mit sich bringt.

Aber da kam schon Ilona mir entgegen, strahlend auch sie; gleichsam mit dunkelzärtlichen Armen umfing mich ihr Blick. Noch nie hatte sie mir so warm, so innig die Hand gedrückt. »Ich danke Ihnen,« sagte sie, und es klang, als spräche sie durch einen warmen feuchten Sommerregen. »Sie wissen ja selbst nicht, was Sie für das Kind getan haben. Sie haben sie gerettet, bei Gott, wirklich gerettet! Kommen Sie nur rasch, ich kann Ihnen gar nicht schildern, wie sehr sie auf Sie wartet.«

Unterdessen rührte sich leise die andere Tür. Ich hatte das Gefühl, jemand habe lauschend hinter ihr gestanden. Der alte Mann kam herein, und nicht wie gestern war mehr der Tod und das Grauen in seinen Augen, sondern ein zärtliches Strahlen. »Wie gut, daß Sie da sind. Sie werden staunen, wie sie verwandelt ist. Nie habe ich sie in all den Jahren seit dem Unglück so heiter, so glücklich gesehen. Es ist ein Wunder, ein wirkliches Wunder! O Gott, was haben Sie für sie, was haben Sie für uns getan!«

Es übermannte ihn mitten im Wort. Er schluckte und schluchzte und schämte sich zugleich seiner Rührung, die mich allmählich selber ergriff. Denn wer könnte fühllos solcher Dankbarkeit widerstehen? Ich hoffe, nie ein eitler Mensch gewesen zu sein, nie einer, der sich selbst bewunderte oder überschätzte, und glaube auch heute weder an meine Güte noch an meine Kraft. Aber von dieser wilden und dankbaren Begeisterung der andern strömte eine heiße Welle von Zuversicht unwiderstehlich in mich über. Weggetragen wie von goldenem Wind war mit einmal alle Furcht, alle Feigheit. Warum sollte ich mich nicht sorglos lieben lassen, wenn es die andern so glücklich machte? Geradezu ungeduldig wurde ich schon, hinüberzugehen in den Raum, den ich vorgestern so verzweifelt verlassen.

Und siehe, da saß ein Mädchen im Lehnstuhl, das ich kaum erkannte, so heiter blickte sie und solche Helligkeit ging von ihr aus. Sie trug ein zartblaues seidenes Kleid, das sie noch mädchenhafter, noch kindlicher erscheinen ließ. Im rötlichen Haar glänzten — waren es Myrten? — weiße Blüten, und um den Lehnstuhl gereiht standen — wer hatte sie ihr geschenkt? — Blumenkörbe, ein bunter Hain. Sie mußte längst gewußt haben, daß ich im Hause war; zweifellos hatte die Wartende das heitere Begrüßen vernommen und meinen nahenden Schritt. Aber vollkommen fehlte diesmal jener nervös prüfende, überwachende Blick, der sich sonst immer bei meinem Eintreten aus halb gedeckten Lidern mißtrauisch auf mich richtete. Leicht und aufrecht saß sie in ihrem Lehnstuhl; völlig vergaß ich diesmal, daß die Decke ein Gebrest verhüllte und der tiefe Fauteuil eigentlich ihr Kerker war, denn ich staunte nur über dies neue Mädchenwesen, das kindlicher in seiner Freude, fraulicher in seiner Schönheit schien. Sie bemerkte mein leises Überraschtsein und nahm es wie eine Gabe dar. Der alte Ton unserer unbesorgt-kameradschaftlichen Tage klang sofort auf, als sie mich einlud:

»Endlich! Endlich! Bitte, setzen Sie sich da gleich neben mich. Und, bitte, sprechen Sie nicht. Ich habe Ihnen etwas Entscheidendes zu sagen.«

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