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Stefan_Zweig_-_Ungeduld_des_Herzens.doc
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12.11.2019
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Ich zögerte. Das neugierige Staunen seines Blicks verwirrte mich.

»Aber wann denn? ...« überlegte er. »Und vor allem: wer soll das riskieren? Einmal wird die Aufklärung doch nötig werden, und die Enttäuschung dann hundertmal gefährlicher, ja, lebensgefährlich sein. Würden Sie wirklich eine solche Verantwortung übernehmen?«

»Ja«, sagte ich fest (ich glaube, einzig die Angst, sonst sofort mit ihm hinausfahren zu müssen, gab mir diese jähe Entschlossenheit). »Diese Verantwortung übernehme ich voll und ganz. Ich weiß bestimmt, daß es Edith jetzt unermeßlich helfen würde, wenn man ihr vorläufig die Hoffnung auf eine völlige, endgültige Heilung ließe. Wird es dann nötig sein, sie aufzuklären, daß wir ... daß ich vielleicht zuviel versprochen habe, so werde ich mich ehrlich dazu bekennen, und ich bin überzeugt, sie wird alles verstehen.«

Condor blickte mich starr an. »Donnerwetter«, murmelte er schließlich, »Sie muten sich allerhand zu! Und das Merkwürdigste ist, daß Sie uns andere mit Ihrem Gottesglauben infizieren — erst die draußen und, ich fürchte, allmählich auch mich! — Nun, wenn Sie wirklich diese Verantwortung auf sich nehmen, Edith wieder ins Gleichgewicht zu bringen, falls eine Krise eintreten sollte, dann ... dann bekommt die Sache natürlich ein anderes Gesicht ... dann könnte man vielleicht wirklich riskieren, noch ein paar Tage zuzuwarten, bis ihre Nerven etwas besser sitzen... Aber bei solchen Verpflichtungen gibt es kein Zurück, Herr Leutnant! Es ist meine Pflicht, Sie zuvor gründlich zu warnen. Wir Ärzte sind vor jeder Operation gebunden, die Beteiligten auf alle möglichen Gefahren aufmerksam zu machen — einer schon so lange Gelähmten zu versprechen, sie werde in kürzester Zeit völlig geheilt werden, bedeutet einen nicht minder verantwortlichen Eingriff als den mit dem Skalpell. Überlegen Sie also genau, was Sie auf sich nehmen — es gehört unermeßliche Kraft dazu, einen Menschen wieder aufzurichten, den man einmal betrogen hat! Ich liebe keine Undeutlichkeiten. Ehe ich von meiner eigentlichen Absicht abstehe, die Kekesfalvas sofort und ehrlich aufzuklären, daß jene Methode in unserem Fall unanwendbar ist, und wir leider noch viel Geduld von ihnen fordern müssen, muß ich wissen, ob ich mich auf Sie verlassen kann. Kann ich unbedingt darauf zählen, daß Sie mich dann nicht im Stich lassen?«

»Unbedingt.«

»Gut.« Condor schob das Glas mit einem Ruck von sich. Wir hatten keiner einen Tropfen getrunken. »Oder vielmehr: hoffen wir, daß es gut ausgeht, denn ganz behaglich fühl ich mich bei diesem Hinausschieben nicht. Ich werde Ihnen jetzt genau sagen, wie weit ich gehe — keinen Schritt über die Wahrheit hinaus. Ich rate zu einer Kur im Engadin, aber ich erkläre, daß die Methode Viennots keineswegs ausgeprobt ist und betone ausdrücklich, daß sie beide keine Wunder erwarten sollen. Benebeln sie sich im Vertrauen auf Sie trotzdem mit unsinnigen Hoffnungen, so wird es an Ihnen sein — ich habe Ihre Zusage —, die Sache, Ihre Sache, rechtzeitig ins reine zu bringen. Vielleicht begehe ich ein gewisses Wagnis, wenn ich Ihnen mehr vertraue als meinem ärztlichen Gewissen — nun, das will ich auf mich nehmen. Schließlich meinen wir es beide mit dieser armen Kranken gleich gut.«

Condor erhob sich. »Wie gesagt, ich rechne auf Sie, wenn irgendeine Krise der Enttäuschung eintreten sollte; hoffentlich erreicht Ihre Ungeduld mehr als meine Geduld. Lassen wir also dem armen Kind noch ein paar Wochen Zuversicht! Und bringen wir sie wirklich inzwischen ein anständiges Stück vorwärts, dann haben Sie ihr geholfen und nicht ich. Erledigt! Es ist höchste Zeit. Ich werde draußen erwartet.«

Wir verließen das Lokal. Der Wagen stand vor dem Hause für ihn bereit. Im letzten Augenblick, da Condor schon eingestiegen war, zuckte mir noch die Lippe, als wollte sie ihn zurückrufen. Aber schon zogen die Pferde an. Der Wagen und damit das Unabänderliche waren in vollem Gang.

Drei Stunden später fand ich auf meinem Tisch in der Kaserne ein Billett, hastig geschrieben und von dem Chauffeur gebracht. »Kommen Sie morgen möglichst früh. Es ist furchtbar viel zu erzählen. Eben war Doktor Condor hier. In zehn Tagen fahren wir weg. Ich bin schrecklich glücklich. Edith.«

Sonderbar, daß mir gerade in dieser Nacht jenes Buch in die Hand geriet. Ich war im allgemeinen ein schwacher Leser, und auf dem wackligen offenen Regal meiner ärarischen Bude standen einzig die sechs oder acht militärischen Bände wie das Dienstreglement und der Armeeschematismus, die für unsereins das Alpha und Omega sind, neben etwa zwei Dutzend Klassikern, die ich, ohne sie je aufzuschlagen, seit der Kadettenschule in jede Garnison mitschleppte — vielleicht nur, um diesen kahlen fremden Zimmern, in denen ich zu hausen genötigt war, einen Schein und Schatten persönlicher Habe zu geben. Dazwischen lagen noch halbaufgeschnitten ein paar schlechtgedruckte, schlechtgeheftete Bücher herum, die mir auf merkwürdige Weise zugekommen waren. Manchmal erschien nämlich in unserem Kaffeehaus ein kleiner buckliger Hausierer mit sonderbar wehmütigen Triefaugen, der auf unwiderstehlich zudringliche Art Briefpapier, Bleistifte und billige Schundbücher anbot, meist solche, für die er sich in kavalleristischen Kreisen den besten Absatz erhoffte: die sogenannte galante Literatur wie Casanovas Liebesabenteuer, das Decamerone, die Memoiren einer Sängerin oder lustige Garnisonsgeschichten. Aus Mitleid — immer wieder aus Mitleid! — und vielleicht auch, um mich seiner melancholischen Zudringlichkeit zu erwehren, hatte ich ihm nach und nach drei oder vier dieser schmierigen, schlechtgedruckten Hefte abgekauft und sie dann lässig in dem Regal herumliegen lassen.

An jenem Abend aber, müde zugleich und überreizt in den Nerven, unfähig zu schlafen und unfähig auch, etwas Vernünftiges zu denken, suchte ich, um mich abzulenken und schlafmüde zu machen, nach irgendeiner Lektüre. In der Hoffnung, daß die naiven bunten Erzählungen, deren ich mich noch von der Kindheit her verworren erinnerte, die beste narkotische Wirkung üben könnten, griff ich nach dem Band Tausendundeine Nacht. Ich legte mich hin und begann zu lesen in jenem Zustand halber Somnolenz, da man schon zu träge ist, die Seiten umzublättern, und aus Bequemlichkeit eine zufällig nicht aufgeschnittene lieber überschlägt. Ich las die Anfangsgeschichte von Scheherezade und dem König mit matter Aufmerksamkeit und dann weiter und weiter. Aber plötzlich schrak ich auf. Ich war auf das merkwürdige Märchen gestoßen von jenem jungen Mann, der am Wege einen lahmen Greis liegen sieht, und bei diesem einen Worte »gelähmt« zuckte etwas in mir empor wie ein scharfer Schmerz; ein Nerv war von der plötzlichen Assoziation wie von einem Brandstrahl berührt. Der gelähmte Greis ruft in jenem Märchen den jungen Menschen verzweifelt an, er könne nicht gehen und ob er ihn nicht auf seine Schultern aufsitzen lassen wolle und weitertragen. Und der junge Mann hat Mitleid — Mitleid, du Narr, warum hast du Mitleid? dachte ich mir —, er beugt sich wirklich hilfreich nieder und setzt sich den alten Mann huckepack auf den Rücken.

Aber dieser scheinbar hilflose Greis ist ein Djinn, ein böser Geist, ein schurkischer Zauberer, und kaum daß er dem jungen Menschen auf den Schultern sitzt, klemmt er plötzlich seine haarigen nackten Schenkel nervig um die Kehle seines Wohltäters und ist nicht mehr abzuschütteln. Unbarmherzig macht er den Hilfreichen zu seinem Reittier, er peitscht, der Rücksichtslose, der Mitleidlose, den Mitleidigen weiter und weiter, ohne ihm Rast zu gönnen. Und der Unselige muß ihn tragen, wohin jener es heischt, er hat von nun ab keinen eigenen Willen mehr. Er ist das Reittier, ist der Sklave des Elenden geworden, und ob ihm auch die Knie wanken und die Lippen verschmachten, er muß, der Narr seines Mitleids, fort und fort traben und den bösen, den verruchten, den listigen alten Mann als sein Schicksal auf dem Rücken schleppen.

Ich hielt inne. Das Herz schlug mir, als wollte es aus der Brust springen. Denn noch während ich las, hatte ich plötzlich in einer unerträglichen Vision diesen listenreichen fremden Greis gesehen, wie er erst auf der Erde lag und tränend die Augen aufschlug, um von dem Mitleidigen Hilfe zu erflehen, ihn gesehen, wie er dann huckepack dem andern auf dem Rücken saß. Er hatte weißes gescheiteltes Haar, jener Djinn, und trug eine goldene Brille. Mit der ganzen Blitzhaftigkeit, mit der sonst nur Träume Bilder und Gesichter heranzureißen und zu vermengen verstehen, hatte ich dem Greise des Märchens instinktiv Kekesfalvas Gesicht geliehen, und ich war mit einmal selbst das unselige Reittier geworden, das er peitschte und vorwärtspeitschte, ja, ich fühlte um die Kehle den Druck so körperlich, daß mir der Atem stockte. Das Buch fiel mir aus den Händen, ich blieb liegen, eiskalt, und hörte mein Herz an die Rippen pochen wie an hartes Holz; noch durch den Schlaf jagte dieser grimmige Jäger weiter und weiter, ich wußte nicht wohin. Als ich morgens mit nassem Haar erwachte; war ich erschöpft und ausgemüdet wie nach unermeßlichem Weg.

Es half nichts, daß ich vormittags mit den Kameraden ausritt, daß ich vorschriftsmäßig, sorgsam und wach meinen Dienst tat; kaum daß ich nachmittags den unausweichlichen Weg zum Schloß hinauswanderte, spürte ich die gespenstische Last wieder auf den Schultern, weil ich erschütterten Gewissens ahnte, daß die Verantwortung, die jetzt für mich begann, eine ganz neue und unermeßlich schwierige geworden war. Damals, auf jener Bank im nächtigen Park, da ich dem alten Manne die Heilung seines Kindes in nahe Aussicht gestellt hatte, war mein Übertreiben doch bloß ein mitleidiges Nicht-die-Wahrheit-sagen ohne meinen Willen und sogar gegen meinen Willen gewesen, aber noch keine bewußte Täuschung, kein grober Betrug. Von nun an hingegen, da ich wußte, daß eine baldige Heilung nicht zu gewärtigen war, hatte ich kalt, zäh, berechnend, ausdauernd mich zu verstellen, ich mußte mit undurchsichtigen Mienen, mit überzeugter Stimme lügen wie ein abgefeimter Verbrecher, der sich Wochen und Monate voraus jede Einzelheit seiner Tat und seiner Verteidigung raffiniert ausdenkt. Zum erstenmal begann ich zu verstehen, daß das Schlimmste auf dieser Welt nicht durch das Böse und Brutale, sondern fast immer nur durch Schwäche verschuldet wird.

Bei den Kekesfalvas geschah dann alles genau, wie ich gefürchtet; kaum daß ich die Turmterrasse betrat, grüßte mich schon begeisterter Empfang. Mit Absicht hatte ich einige Blumen mitgebracht, um den ersten Blick von mir selbst abzulenken. Aber nach einem jähen »Um Himmels willen, wozu bringen Sie mir denn Blumen? Ich bin doch keine Primadonna!« mußte ich mich schon neben die Ungeduldige setzen, und sie begann, ohne innezuhalten. Mit einem gewissen halluzinativen Ton in der Stimme erzählte und erzählte sie, Doktor Condor — »Oh, dieser herrliche, dieser einzige Mensch!« — hätte ihr wieder Mut gemacht. In zehn Tagen reisten sie in ein Sanatorium in der Schweiz, ins Engadin — wozu noch einen Tag versäumen, jetzt da man die Sache endlich scharf angehen wolle? Immer hätte sie's vorausgewußt, daß man alles bisher von der falschen Seite angepackt habe, daß man mit diesem Elektrisieren und Massieren und all den dummen Apparaten allein nicht vorwärtskomme. Bei Gott, es sei aber schon höchste Zeit gewesen, zweimal — sie hätte es mir nie eingestanden — habe sie schon versucht, Schluß mit sich zu machen, zweimal und immer vergeblich. So könne ein Mensch auf die Dauer nicht existieren, keine Stunde wirklich allein, immer angewiesen auf andere mit jedem Handgriff und jedem Schritt, immer bespäht, immer überwacht und dazu noch erdrückt, von dem Gefühl, allen andern bloß eine Last, ein Alp, eine Unerträglichkeit zu sein. Ja, es sei Zeit gewesen, höchste Zeit, aber ich würde sehen, wie rasch es jetzt, wenn man's nur richtig anpacke, mit ihrer Genesung vorwärtsgehen würde. Was taugen denn alle diese dummen kleinen Besserungen, die doch nichts besser machten! Als Ganzes müsse man eben gesunden, sonst sei man nicht gesund. Ach, und schon das Vorgefühl, wie wunderbar das wäre, wie wunderbar...

Das ging so weiter und weiter, ein springender, sprudelnder, sprühender Sturzbach der Ekstase. Wie einem Arzt war mir zumute, der den Fieberphantasien einer Halluzinierenden zuhört und dabei mißtrauisch mit dem unbestechlichen Uhrzeiger die jagenden Pulsschläge nachzählt, weil er dies Glühen und Brennen beunruhigt als triftigsten klinischen Beweis einer Verstörung bewertet. Immer, wenn wie leichter Gischt ein übermütiges Lachen den jagenden Schwall ihres Erzählens übersprühte, schauerte ich zusammen, denn ich wußte doch, was sie nicht wußte — ich wußte, daß sie sich betrog, daß wir sie betrogen. Als sie endlich innehielt, war mir, wie wenn man nachts in einem fahrenden Zug aufschrickt, weil die Räder plötzlich stoppen. Aber sie hatte sich selbst jäh unterbrochen:

»Nun, was sagen Sie dazu? Warum sitzen Sie denn so dumm — pardon, so erschrocken herum? Warum reden Sie kein Wort? Freuen Sie sich denn gar nicht mit mir?«

Ich fühlte mich ertappt. Jetzt oder nie galt es, den herzlichen, den richtig begeisterten Ton zu finden. Aber ich war erst ein erbärmlicher Neuling im Lügen, ich verstand noch nicht die Kunst des bewußten Betrugs. So stoppelte ich mühsam ein paar Worte zusammen.

»Wie können Sie so was sagen? Ich bin nur ganz überrascht ... das müssen Sie doch verstehen ... und bei uns in Wien sagt man jedesmal von einer großen Freude, daß sie einem ,die Red verschlägt'... Natürlich freue ich mich furchtbar für Sie.«

Es widerte mich selbst an, wie künstlich und kalt das klang. Auch sie mußte meine Hemmung sofort bemerkt haben, denn jählings veränderte sich ihre Haltung. Etwas von der Verdrossenheit eines Menschen, den man aus einem Traum aufrüttelt, verdüsterte ihre Verzückung; die Augen, eben noch von Begeisterung funkelnd, wurden plötzlich hart, der Bogen zwischen den Brauen spannte sich wie zum Schuß.

»Nun — viel habe ich nicht bemerkt von Ihrer großen Freude!«

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