- •Von Erich Kästner
- •1 Frau Muthesius, die Leiterin des Kinderheims, sitzt im Büro und berät mit der alten, resoluten Köchin den Speisezettel für die nächsten Tage.
- •3 Irgendwo schlägt die Tür. Schnell, wie ertappt, lässt Lotte die Hände sinken.
- •1 Luise hockt mit ihren Freundinnen auf der Gartenmauer und hat eine strenge Falte über der Nasenwurzel.
- •1 Frau Muthesius sagt zu Fräulein Ulrike: „Wir wollen unsere kleinen Doppelgängerinnen nebeneinander setzen. Vielleicht hilft eine Radikalkur!“
- •1 Am Tisch der Erwachsenen sagt die Helferin Gerda kopfschüttelnd: „Es ist nicht zu fassen! Zwei wildfremde Mädchen und eine solche Ähnlichkeit!“
- •1 Es ist Nacht. Und alle Kinder schlafen. Bis auf zwei.
- •1 Lotte sitzt, ein Blumenkränzchen auf den Zöpfen, allein in der Wiese und ist damit beschäftigt, einen zweiten Kranz zu winden. Da fällt ein Schatten über ihre Schürze. Sie blickt auf.
- •1 Beide haben sich in den Waschsaal geschlichen und stehen vor einem großen Spiegel. Lotte ist voll Feuereifer dabei, Luises Locken mit Kamm und Bürste zu striegeln.
- •1 Die anderen Kinder sitzen längst. Nur Luises und Lottes Schemel sind noch leer.
- •1 Luise und Lotte haben die Erlaubnis erhalten, in den Ort zu gehen. Die „doppelte Lotte“ soll unbedingt im Bild festgehalten werden. Um Fotos nach Hause zu schicken! Da wird man sich wundern!
- •1 Lotte kramt, im Kinderheim, hastig in ihrem Schrank. Unter dem Wäschstapel holt sie eine Fotografie hervor und hält sie der am ganzen Körper fliegenden Luise hin.
- •1 Fräulein Ulrike steht im Büro vor dem Schreibtisch der Lehrerin und hat vor Aufregung krebsrote, kreisrunde Flecken auf beiden Backen.
- •1 Die Zeit vergeht. Sie weiß es nicht besser.
- •1 Es ist Post gekommen. Überall, im Gras und auf der Mauer und auf den Gartenbänken, hocken kleine Mädchen und studieren Briefe.
- •3 „Wo sind eigentlich die Locken und die Zöpfe?“ fragt Fräulein Ulrike. (So nennt man Luise und Lotte neuerdings!)
- •4 „Och die!“ meint Monika abfällig. „Die werden wieder irgendwo im Gras sitzen und sich an den Händen halten, damit der Wind sie nicht auseinanderweht!“
- •2 Aber nein, der Fahrplan hat das Wort. Der Stationsvorsteher hebt sein Zepter. Die Züge setzen sich gleichzeitig in Bewegung. Kinderhände winken.
- •2 Allmählich wird der Bahnsteig aber doch leer.
- •3 Und zum Schluss steht nur noch ein einziges Kind da, ein Kind mit Zöpfen und Zopfschleifen. Bis gestern trug es Locken. Bis gestern hieß es Luise Palfy.
- •1 Luise liegt zum ersten Mal in München im Bett. Die Mutter sitzt auf der Bettkante und sagt: „So, mein Lottchen, nun schlaf gut! Und träum was Schönes!“
- •1 Am Samstagmittag hat Mutti plötzlich den Rucksack gepackt und gesagt: „Zieh die festen Schuhe an! Wir fahren nach Garmisch und kommen erst morgen Abend zurück!“
- •2 „Ich will, dass du meine Frau wirst“, sagt er. Es klingt wie ein zorniger Befehl.
- •3 Sie streichelt sein Haar, lächelt und meint spöttisch: „Dann werde ich morgen mein bestes Kleid anziehen, Liebling, und bei deiner Tochter um deine Hand anhalten.“
- •4 Wieder sitzt ein Pfeil in seinem Herzen. Und diesmal ist der Pfeil vergiftet.
- •1 Herr Gabele zeichnet Lotte. Plötzlich lässt er Block und Bleistift sinken und sagt: „Was hast denn heut, Luiserl? Du schaust ja aus wie sechs Tag’ Regenwetter!“
- •1 Ein Stubenmädchen tritt in Irene Gerlachs elegantes Zimmer und lächelt. „Ein Kind möcht Sie sprechen, gnädiges Fräulein. Ein kleines Mäderl.“
- •1 Der Herr Kapellmeister kommt, da er in der Oper dirigieren muss, nicht zum Abendbrot. Resi leistet dem Kind, wie in solchen Fällen immer, beim Essen Gesellschaft.
- •1 Endlich ist die Oper aus! Der Kapellmeister rast in der Rotenturmstraße die Stufen hoch. Resi öffnet ihm. Sie hat noch den Hut auf, weil sie in der Nachtapotheke war.
- •1 Der Hofrat verabschiedet sich und gibt noch einige Anweisungen. Der Kapellmeister hält ihn an der Tür zurück. „Was fehlt dem Kind?“
- •1 Der Chefredakteur der Münchner Illustrierten, Doktor Bernau, stöhnt auf. „Sauregurkenzeit, meine Liebe! Wo sollen wir ein aktuelles Titelbild hernehmen und nicht stehlen?“
- •1 Frau Körner hat Fräulein Linnekogel, die Lehrerin, in der Wohnung aufgesucht.
- •1 Luise steht vor einem Münchner Postschalter. „Nein“, sagt der Beamte für die postlagernden Sendungen bedauernd. „Nein, Fräulein Vergissmeinnicht, heut hätten wir wieder nix.“
- •1 Frau Körner kommt heim. Brennende Neugier und kalte Angst streiten in ihrem Herzen, dass es ihr fast den Atem nimmt.
- •1 Als am nächsten Morgen der Herr Hofrat Strobl, von Peperl begleitet, vor dem Haus in der Rotenturmstraße ankommt, fährt gerade ein Taxi vor.
- •1 Resi öffnet die Korridortür. Draußen steht der japsende Peperl mit einem Kind.
- •1 Der Abend hat sich auf die Erde herabgesenkt. In Wien wie anderswo auch. Im Kinderzimmer ist es still. Luise schläft. Lotte schläft. Sie schlummert der Gesundung entgegen.
- •1 Eine Stunde später steigt, vor einem Haus am Kärntner Ring, eine junge, elegante Dame aus einem Auto und verhandelt mit dem mürrischen Portier.
- •3 Und manchmal, ja, da schauen sich die Schwestern ängstlich in die Augen. Was wird werden?
- •1 Die junge Frau legt Hut und Mantel ab. „Was für eine Überraschung!“ meint sie leise.
- •1 Luise steht, mit einer Küchenschürze geschmückt, auf einem Stuhl und heftet mit Reißzwecken die Titelseite der Münchner Illustrierten an die Wand.
1 Luise steht vor einem Münchner Postschalter. „Nein“, sagt der Beamte für die postlagernden Sendungen bedauernd. „Nein, Fräulein Vergissmeinnicht, heut hätten wir wieder nix.“
2 Luise blickt ihn unschlüssig an. „Was kann das nur bedeuten?“ murmelt sie bedrückt.
3 Der Beamte versucht zu scherzen. „Vielleicht ist aus dem Vergissmeinnicht ein ‘Vergissmich’ geworden?“
4 „Das ganz gewiss nicht“, sagt sie in sich gekehrt. „Ich frag morgen wieder nach.“
5 „Wenn ich darum bitten darf“, erwidert er lächelnd.
1 Frau Körner kommt heim. Brennende Neugier (жгучее любопытство) und kalte Angst streiten (спорят) in ihrem Herzen, dass es ihr fast den Atem nimmt.
2 Das Kind hantiert (возится, хлопочет) eifrig in der Küche. Topfdeckel klappern. Im Tiegel schmort es (на сковороде, в кастрюле тушится; der Tiegel – сковорода /с ручкой/; низкая кастрюля /с ручкой/).
3 „Heute riecht’s aber gut!“ sagt die Mutter. „Was gibt’s denn, hm?“
4 „Schweinsripperl (свиные отбивные: «ребрышки»: das Schwein – свинья + die Rippe – ребро) mit Sauerkraut (с кислой капустой: das Sauerkraut) und Salzkartoffeln (отварным картофелем)“, ruft die Tochter stolz (гордо).
5 „Wie schnell du das Kochen gelernt hast!“ sagt die Mutter, scheinbar ganz harmlos (как будто бы совершенно невинно, безобидно; scheinen – казаться; scheinbar – кажущийся, мнимый; видимо).
6 „Nicht wahr (не правда ли)?“ antwortet die Kleine fröhlich (радостно). „Ich hätt nie gedacht (никогда бы не подумала), dass ich …“ Sie bricht entsetzt ab (в ужасе замолкает: «прерывает /речь/»; das Entsetzen – ужас; entsetzt – объятый ужасом) und beißt sich auf die Lippen. Jetzt nur die Mutter nicht ansehen!
7 Diese lehnt sich an der Tür (прислоняется) und ist bleich. Bleich wie die Wand.
8 Das Kind steht am offenen Küchenspind (у кухонного шкафчика; der/das Spind – узкий шкафчик /например в раздевалке/) und hebt Geschirr heraus. Die Teller klappern wie bei einem Erdbeben (при землетрясении: die Erde + beben).
9 Da öffnet die Mutter mühsam (с трудом) den Mund und sagt: „Luise!“
10 Krach (бабах)!
11 Die Teller liegen in Scherben (разбитые вдребезги: «в осколках»: die Scherbe – черепок, осколок) auf dem Boden. Luise hat’s herumgerissen (опрокинула: «сорвала»; reißen рвать). Ihre Augen sind vor Schreck geweitet (от страха широко раскрыты, вытаращены).
12 „Luise!“ wiederholt die Frau sanft und öffnet die Arme weit.
13 „Mutti!“
14 Das Kind hängt der Mutter wie eine Ertrinkende (утопающая) am Hals und schluchzt leidenschaftlich (рыдает во всю: «страстно»; die Leidenschaft страсть).
15 Die Mutter sinkt in die Knie und streichelt Luise mit zitternden Händen. „Mein Kind, mein liebes Kind!“
16 Sie knien zwischen zerbrochenen Tellern (стоят на коленях посреди разбитых тарелок; zerbrechen – разбивать). Auf dem Herd verschmoren («перетушиваются») die Schweinsripperl. Es riecht nach angebranntem Fleisch (пахнет подгорелым мясом: das Fleisch). Wasser zischt (шипит) aus den Töpfen (из кастрюль: der Topf) in die Gasflammen.
17 Die Frau und das kleine Mädchen merken von alledem nichts (ничего этого: «всего этого» не замечают). Sie sind, wie es manchmal heißt (как это иногда говорится) und ganz selten vorkommt (и очень редко случается), nicht ‘von dieser Welt’ (не от мира сего).