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Lottchen_m.doc
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22.05.2015
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1 Der Chefredakteur der Münchner Illustrierten, Doktor Bernau, stöhnt auf. „Sauregurkenzeit, meine Liebe! Wo sollen wir ein aktuelles Titelbild hernehmen und nicht stehlen?“

2 Frau Körner, die an seinem Schreibtisch steht, sagt: „Neopress hat Fotos von der neuen Meisterin im Brustschwimmen geschickt.“

3 „Ist sie hübsch?“

4 Die junge Frau lächelt. „Fürs Schwimmen reicht es.“

5 Doktor Bernau winkt entmutigt ab. Dann kramt er auf dem Tisch. „Ich hab doch da neulich von irgend so’nem ulkigen Dorflichtbildkünstler Fotos geschickt gekriegt! Zwillinge waren darauf!“ Er wühlt zwischen Aktendeckeln und Zeitungen. „Paar reizende kleine Mädels! Zum Schießen ähnlich! He, wo seid ihr denn, ihr kleinen Frauenzimmer? So etwas gefällt dem Publikum immer. Eine gefällige Unterschrift dazu. Wenn schon nichts Aktuelles, dann eben ein Paar hübsche Zwillinge! Na endlich!“ Er hat das Kuvert mit den Fotos entdeckt, schaut die Bilder an und nickt beifällig. „Wird gemacht, Frau Körner!“ Er reicht ihr die Fotos.

6 Nach einiger Zeit blickt er schließlich hoch, weil seine Mitarbeiterin nichts sagt. „Nanu!“ ruft er. „Körner! Sie stehen ja da wie Lots Weib als Salzsäule! Aufwachen! Oder ist Ihnen schlecht geworden?“

7 „Ein bisschen, Herr Doktor!“ Ihre Stimme schwankt. „Es geht schon wieder.“ Sie starrt auf die Fotos. Sie liest den Absender. „Josef Eipeldauer, Photograph, Seebühl am Bühlsee.“

8 In ihrem Kopf dreht sich alles.

9 „Suchen Sie das geeignetste Bild aus, und dichten Sie eine Unterschrift, dass unseren Lesern das Herz im Leibe lacht! Sie können das ja erstklassig!“

10 „Vielleicht sollten wir sie doch nicht bringen“, hört sie sich sagen.

11 „Und warum nicht, hochgeschätzte Kollegin?“

12 „Ich halte die Aufnahmen nicht für echt.“

13 „Zusammenkopiert, was?“ Doktor Bernau lacht. „Da tun Sie dem Herrn Eipeldauer entschieden zu viel Ehre an. So raffiniert ist der nicht! Also, rasch ans Werk, liebwerte Dame! Die Unterschrift hat bis morgen Zeit. Ich kriege den Text noch zu Gesicht, bevor Sie ihn in Satz geben.“ Er nickt und beugt sich über neue Arbeit.

14 Sie tastet sich hinüber in ihr Zimmer, sinkt in ihren Sessel, legt die Fotos vor sich hin und presst die Hände an die Schläfen.

15 Die Gedanken fahren in ihrem Kopfe Karussell. Ihre beiden Kinder! Das Kinderheim! Die Ferien! Natürlich! Aber, warum hat Lottchen nichts davon erzählt? Warum hat Lottchen die Bilder nicht mitgebracht? Denn als sich die zwei fotografieren ließen, taten sie’s doch nicht ohne Absicht. Sie werden entdeckt haben, dass sie Geschwister sind! Und dann haben sie sich vorgenommen, nichts darüber zu sagen. Es lässt sich verstehen, ja, freilich. Mein Gott, wie sie einander gleichen! Nicht einmal das vielgepriesene Mutterauge … Oh, ihr meine beiden, beiden, beiden Lieblinge!

16 Wenn jetzt Doktor Bernau den Kopf durch die Tür steckte, sähe er in ein von Glück und Schmerz überwältigtes Gesicht, über das Tränen strömen, Tränen, die das Herz ermatten, als flösse das Leben selber aus den Augen.

17 Glücklicherweise steckt Doktor Bernau den Kopf nicht durch die Tür.

18 Frau Körner ist bemüht, sich zusammenzureißen. Gerade jetzt heißt es, den Kopf oben zu behalten! Was soll geschehen? Was wird, was muss geschehen? Ich werde mit Lottchen reden!

19 Eiskalt durchfährt es die Mutter! Ein Gedanke schüttelt wie eine unsichtbare Hand ihren Körper hin und her!

20 Ist es denn Lotte, mit der sie sprechen will?

1 Frau Körner hat Fräulein Linnekogel, die Lehrerin, in der Wohnung aufgesucht (посетила).

2 „Das ist eine mehr als merkwürdige Frage (более чем странный вопрос), die Sie an mich richten (с которым вы ко мне обращаетесь: «который вы ко мне обращаете»)“, sagt Fräulein Linnekogel. „Ob ich für möglich halte (считаю ли я возможным), dass Ihre Tochter nicht ihre Tochter, sondern ein anderes Mädchen ist? Erlauben Sie (позвольте), aber …“

3 „Nein, ich bin nicht verrückt (сумасшедшая)“, versichert (уверяет, заверяет) Frau Körner und legt eine Fotografie auf den Tisch.

4 Fräulein Linnekogel schaut das Bild an. Dann die Besucherin. Dann wieder das Bild.

5 „Ich habe zwei Töchter“, sagt die Besucherin leise. „Die zweite lebt bei meinem geschiedenen Mann in Wien. Das Bild kam mir vor etlichen Stunden durch Zufall in die Hände (попала в руки несколько часов назад случайно). Ich wusste nicht, dass sich die Kinder in den Ferien begegnet sind (повстречались /случайно/).“

6 Fräulein Linnekogel macht den Mund auf und zu wie ein Karpfen auf dem Ladentisch (как карп на прилавке: der Karpfen). Kopfschüttelnd schiebt sie die Fotografie von sich weg, als hätte sie Angst, gebissen zu werden (как будто боится, что ее укусят: «боится быть укушенной»: beißen – кусать). Endlich fragt sie: „Und die beiden haben bis dahin (до тех пор) nichts voneinander gewusst?“

7 Die junge Frau schüttelt den Kopf. „Nein. Mein Mann und ich haben’s damals so vereinbart (условились, договорились), weil wir es für das Beste hielten (считали наилучшим).“

8 „Und auch Sie haben von dem Mann und Ihrem anderen Kind nie wieder gehört?“

9 „Nie.“

10 „Ob er wieder geheiratet hat?“

11 „Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum (не думаю, вряд ли). Er meinte, er eigne sich nicht fürs Familienleben (что не годится, не подходит).“

12 „Eine höchst abenteuerliche Geschichte (в высшей степени авантюрная история)“, sagt die Lehrerin. „Sollten die Kinder wirklich auf die absurde Idee verfallen sein, einander auszutauschen? Wenn ich mir Lottchens charakteristische Wandlung vor Augen halte, und dann die Schrift, Frau Körner, die Schrift! Ich kann es kaum fassen!  Aber es würde manches erklären (но это кое-что бы прояснило).“

13 Die Mutter nickt und schaut starr (неподвижно, застывше) vor sich hin.

14 „Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel (не обижайтесь на мою откровенность: übelnehmen; übel – плохой, дурной, противный)“, meint Fräulein Linnevogel, „ich war nie verheiratet (я никогда не была замужем), ich bin Erzieherin und habe keine Kinder  aber ich meine immer: Die Frauen, die wirklichen, verheirateten, nehmen ihre Männer zu wichtig (воспринимают своих мужей слишком всерьез, относятся к ним слишком серьезно)! Dabei ist nur eines wesentlich (а при этом только одно существенно; das Wesen – сущность, существо): das Glück der Kinder!“

15 Frau Körner lächelt schmerzlich. „Glauben Sie, dass meine Kinder in einer langen, unglücklichen Ehe glücklicher geworden wären?“

16 Fräulein Linnekogel sagt nachdenklich: „Ich mache Ihnen keinen Vorwurf (не упрекаю: «не делаю упрека»; jemandem etwas vorwerfen – упрекать кого-либо в чем-либо). Sie sind noch heute sehr jung. Sie waren, als Sie heirateten, ein halbes Kind. Sie werden Ihr Leben lang jünger sein, als ich jemals gewesen bin (чем я когда-либо была). Was für den einen richtig wäre (что было бы правильным для одного), kann für den anderen falsch sein.“

17 Der Besuch steht auf (гостья встает).

18 „Und was werden Sie tun (и что же вы собираетесь делать, предпринять)?“

19 „Wenn ich das wüsste (если бы я знала)!“ sagt die junge Frau.

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